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Meinung: Medikamente: Tückische Wunderwaffen

Mindestens 52 Todesfälle gab es im Zusammenhang mit der Einnahme des Lipobay-Wirkstoffes, alleine fünf in Deutschland. Mit ihrem Cholesterin senkenden Medikament wollte die Bayer AG eine Milliarde Euro pro Jahr umsetzen, der block buster galt als besonders risikoarm und zuverlässig.

Mindestens 52 Todesfälle gab es im Zusammenhang mit der Einnahme des Lipobay-Wirkstoffes, alleine fünf in Deutschland. Mit ihrem Cholesterin senkenden Medikament wollte die Bayer AG eine Milliarde Euro pro Jahr umsetzen, der block buster galt als besonders risikoarm und zuverlässig. Jetzt ringen Manager und Mediziner ratlos nach Erklärungen, warum die angeblich sicheren Pillen plötzlich so gefährlich sind, dass sie vom Markt genommen werden müssen. Für die über 200 000 alleine in Deutschland mit Lipobay behandelten Patienten hat Bayer-Chef Schneider nur eine simple Antwort: "Es war Pech."

Doch es war mehr als Schicksal. Das Lipobay-Desaster ist auch Folge der Euphorie um eine neue Wirkstoffgruppe, die seit einiger Zeit Ärzte und Analysten beflügelt: die Cholesterin-Senker vom Typ der Statine. Diese Medikamente, zu denen auch Lipobay gehört, verringern gezielt das "schlechte" LDL-Cholesterin, das wesentlich an der Gefäßverkalkung (Arteriosklerose) beteiligt ist. Obendrein wird das "gute" HDL-Cholesterin erhöht, das für den Abbau von Arteriosklerose-Herden benötigt wird.

Menschen mit erhöhtem LDL-Cholesterin haben daher zwei Möglichkeiten, ihr Risiko für einen Herzinfarkt zu verringern: lebenslang strenge Diät einhalten oder lebenslang Pillen schlucken. Daher sind Statine für die Industrie ein Milliardengeschäft. Auch die Ermahnung auf dem Beipackzettel, die Pillen bitte erst nach erfolgloser Diät zu nehmen, ändert daran nichts: Statine brachten im vergangenen Jahr die höchsten Gewinne unter allen Wirkstoffgruppen. Nachdem mehrere große Studien gezeigt hatten, dass die Wundermittel das Infarktrisiko um bis zu 30 Prozent senken, empfahl die US-Gesundheitsbehörde sogar, ihre Anwendung zusätzlich auszuweiten: Demnächst sollen 36 Millionen Amerikaner die chemischen Cholesterin-Bremsen regelmäßig schlucken.

Mit der Einführung ihres Lipobay versuchte Bayer 1997, sich einen Teil vom Kuchen zu sichern. Allerdings gestaltete sich der Markteintritt in den USA als äußerst schwierig - die Spitzenplätze unter den sechs zugelassenen Statinen waren und sind fest in der Hand von drei Konkurrenten. Bayer hoffte, durch die ab Herbst 1999 zugelassene höhere Dosierung seinem Lipobay (in den USA: Baycol) doch noch zum Durchbruch zu verhelfen. Doch dann zeigte sich, wie wenig über die Wirkungsweise der Statine eigentlich bekannt ist. Zunächst häuften sich Berichte über zusätzliche, bisher unbekannte Wirkungen: Statine beeinflussen etwa die Organabstoßung nach Transplantationen, bremsen bestimmte Tumorzellen und hemmen Entzündungsreaktionen. Einige Wissenschaftler halten sogar die Entzündungshemmung und nicht die Senkung des LDL-Cholesterins für den entscheidenden Faktor bei der Verringerung des Infarktrisikos.

Späte Erkenntnisse, zu spät. Die Pharmakologen nahmen bisher an, dass Statine nur den Cholesterinspiegel senken und sich in ihren Nebenwirkungen ähneln. Auch bei anderen Statinen hatte man äußerst selten Muskelzerfall und Nierenversagen als Nebenwirkung beobachtet - gemessen an den über zehn Jahren Erfahrung mit Millionen Patienten galten die Wundermittel jedoch geradezu als unheimlich, weil sie kaum Nebenwirkungen hatten.

Alexander S. Kekulé

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