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Hatice Akyün.

© Andre Rival

Meine Heimat: Auf bessere Nachbarschaft

Hatice Akyün wünscht sich mehr Solidarität unter Nachbarn. Dass nur noch Individualität zählen soll, sieht unsere Autorin nicht ein. In einer echten Gemeinschaft kann man nur gewinnen, meint sie.

Not macht erfinderisch, sagt eines dieser deutschen Sprichwörter. Oder um den Dichter der Romantik, Friedrich Hölderlin, zu bemühen: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Keine Sorge, ich erzähle Ihnen heute nichts vom Niedergang der Welt. Nein, meine Not liegt im Alltäglichen.

Es wird Frühling, die Tage werden länger, und ich brauche dringend Verdunkelungsrollos im Kinderzimmer. Meine Tochter weigert sich, vor der Dunkelheit einzuschlafen. Ich bin also gezwungen, mir etwas auszudenken, damit es früher dunkel wird. Ich könnte natürlich in ein Fachgeschäft gehen oder ganz modern in einem der Internetportale nach Hilfe suchen, in denen Handwerker ihre Dienste anbieten. Ich könnte die Anbringung einfach in Auftrag geben.

Als ich gerade versuchte, Höhe und Breite der Fenster auszumessen, fiel mir unsere Zechensiedlung in Duisburg ein. Früher half jeder jedem oder zumindest stand man sich bei. Kein Wochenende verging, ohne dass eine Gruppe von Männern unter den Autos lag, um Bremsen, Auspuff, Vergaser oder Beulen zu reparieren. Man unterstützte sich beim Umzug, schleppte Kisten, tapezierte und strich bis tief in die Nacht Raufasertapeten. Ganze Häuser samt Bad wurden in Nachbarschaftshilfe hochgezogen. Es gab immer einen, der einen kannte, der wusste, wo man etwas schneller, billiger und besser bekam. Diese Geschichten stammen nicht aus der Vorzeit. Ich habe sie persönlich erlebt, und dabei habe ich nicht einmal graue Haare.

Meine Generation hat sich aber für die Flexibilität entschieden. Auch, was die Freundschaften angeht. Das Private übernimmt das Berufliche, Arbeit und Freizeit gehen nahtlos ineinander über, leider zulasten eines intakten Miteinanders. Es gibt kaum noch den geregelten Feierabend, die Wohnung ist Schlafplatz, aber kein Lebensmittelpunkt mehr. Man kann sich in der Nachbarschaft schon als beliebt betrachten, wenn man regelmäßig auf der Straße gegrüßt wird. Das war dann aber schon der Höhepunkt der Sozialkontakte.

Während wir früher zur Solidarität gezwungen waren, weil nur gemeinsam etwas ging, zählt heute nur die Individualität. Gemeinschaft und Freundschaft sind auf digitalen Plattformen zu finden. Dort tauschen wir uns in Millisekunden aus, sind aber nicht in der Lage, uns zu organisieren, wenn einer von uns mal dringend Hilfe braucht. Wir stellen das Privateste ins Internet, lassen aber niemanden durch unsere Haustür. Man muss sich ja nicht gleich täglich auf die Pelle rücken, aber zwischen Sozialautismus und der Aufgabe von Privatheit ist der Korridor der Alternativen sehr breit.

Das ignorante Nebeneinanderleben muss nicht zwingend so bleiben. Der Gewinn einer Gemeinschaft, die füreinander da ist, hat viele Vorteile. Wir nehmen Anteil, bauen Vorurteile ab und stiften Vertrauen. Was man kennt, ist einem nicht fremd, wem man hilft, der wird sich nicht abwenden, wer sich helfen lässt, ist angenommen. Oder wie mein Vater sagen würde: „Ev alma komsu al“ – bevor du ein Haus kaufst, gewinne deine Nachbarn.

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