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Mon BERLIN: Dame Pipis unterirdisches Universum

Pascale Hugues, Le Point

Es geht an der Küche vorbei und drei Stufen hinunter, bevor man auf die Hüterin des Örtchens trifft. An einem Tisch mit Wachstuchdecke wartet die Klofrau darauf, dass auf ihren Teller eine Münze fällt. Die Franzosen nennen sie viel hübscher „Dame Pipi“. Denn häufig – das ist Ihnen in der Eile vielleicht entgangen – sieht sie wirklich aus wie eine Dame, mit ihrem kleingeblümten Nylonkittel, ihrer altmodischen toupierten Hochfrisur und ihren blau geschminkten Augen, die Körperliches und Seelisches mit souveränem Blick umfassen.

Die Dame Pipi herrscht über ein unterirdisches Universum, von dessen Existenz man an der Oberfläche der Stadt nicht einmal etwas ahnt. Auf dem Tischchen zwischen Kondomautomat und Telefonzelle hat sie ihren Altar errichtet: ein Porzellanschälchen für das Trinkgeld, ein schlichtes Blumengesteck aus Plastik, Ansichtskarten aus fernen Paradiesen und eine Thermosflasche mit Kaffee. Diskret nimmt sie weibliche Befangenheit zur Kenntnis: Rasch wird Make-up auf die ramponierte Haut aufgetragen, der Pullover wird zurechtgezupft, um den unvorteilhaften Bauch zu kaschieren. Auf einem Gestell in der Nähe der Waschbecken hat eine besonders zuvorkommende Dame Pipi in einem Restaurant im Grunewald eine Dose Haarspray, ein Fläschchen mit billigem Parfüm, einen Stapel Papiertaschentücher aufgebaut. Sie stellt ihren schnell entschwindenden Kundinnen diese lebensnotwendigen Dinge zur Verfügung und schafft damit die Atmosphäre eines Badezimmers. Man fühlt sich wie zu Hause.

Um sich die Zeit totzuschlagen, strickt die Dame Pipi, sie löst Kreuzworträtsel und studiert Kochrezepte im „Bild der Frau“.

Wie der Straßenkehrer und der Fensterputzer übt die Dame Pipi einen Beruf aus, der vom Renommee her ganz unten angesiedelt ist. Ihre Tätigkeit wird verachtet, weil sie mit den elementarsten körperlichen Erfordernissen in Berührung kommt. Ein auf den ersten Blick anspruchsloses Gewerbe, für das keine besonderen Kenntnisse erforderlich sind. Allerdings wurde in Frankreich versucht, den Damen Pipi eine Prüfung aufzuerlegen. Sie beinhaltet einen theoretischen und einen praktischen Teil: Unterschiedliche Funktionsweise von männlicher und weiblicher Blase, Grundkenntnisse in Klempnerei und in der Beseitigung von Verstopfungen, Reinigen eines WC-Beckens in einer vorgegebenen Zeit. Um dieses schwierig auszuübende Handwerk aufzuwerten und den Irrtum zu beseitigen, bei der Dame Pipi handele es sich um eine Bettlerin, die den Passanten ihren Teller hinstreckt, hat das französische Gesetz über abwertende Bezeichnungen sie zur Angestellten für multifunktionale Erleichterung ernannt, zum Agent de Soulagement Multifonctionnel. Das ist nicht so charmant wie Dame Pipi, wirkt aber seriöser.

Die Dame Pipi verfügt über verkannte Talente. Sie kann eine Münze oder einen Hosenknopf an dem Klang erkennen, mit dem er sich auf dem Teller dreht. Eine, die ich kenne, ist auch Kartenlegerin. Aus Herzbube und Pik-Ass kann sie das Schicksal herauslesen. Wenn man die Stufen wieder hinaufsteigt, sieht man einer strahlenden Zukunft entgegen. Nachsichtig drückt die Dame Pipi ein Auge zu, wenn das Portemonnaie in der Jackentasche über dem Stuhl oben im Speisesaal vergessen wurde. Diese Kundinnen verdrücken sich unauffällig. Sie schleichen die Wände entlang, verlassen den Schauplatz auf Zehenspitzen, schmuggeln sich zum Ausgang und hoffen, dass die Herrin des Ortes sie nicht bemerkt hat. Die Aufgabe der Dame Pipi beschränkt sich nicht darauf, die Toilette sauber zu halten. Sie übt eine ganz besondere soziale Funktion aus. Sie ist zugleich Gesellschaftsdame. Schweigsam, diskret, höflich … Manchmal wird man im Untergrund von Berlin Zeugin philosophischer Gespräche, intimer Geständnisse, sogar von Tränen. Neben dem Händetrockner breiten die Einsamen, die niemanden zum Reden haben, ihr Leben aus. Andere sprechen über das sich eintrübende Wetter und den verunglückten Berliner Sommer. Man schimpft auf die Hunde, während die Schuhe am Mülleimer vom Hundekot befreit werden. Doch wie lange wird dieses kleine Gewerbe mit all seiner Weisheit noch überleben? In den Autobahnraststätten sind die Damen Pipi schon wegrationalisiert worden. Sie wurden durch gewöhnliche Automaten ersetzt. Es ist wie in der Pariser Metro. Die Fahrkarte wird in den Schlitz geschoben, und das Türchen öffnet sich geräuschlos. Dahinter wartet ein steriles Universum, ohne gute Seele und ohne Gespräche.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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