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Tagesspiegel-Kolumnistin Pascale Hugues liest und diskutiert im Tagesspiegel-Salon.

© Thilo Rückeis

Mon BERLIN: Das zerbrechliche Gedächtnis

Berlin hat viele Wirklichkeiten. Die heutige ist nur eine von vielen. Die anderen leben in den Regalen und Magazinen der Archive und Bibliotheken.

Ich hatte keine Ahnung. Nur durch Zufall habe ich es entdeckt: Berlin führt ein Doppelleben. Und zwar in Reinickendorf, gleich am Ende der Autobahn, nach dem Tunnel, ein unsichtbarer geheimer Ort, in dem das zweite Leben unserer Stadt brodelt. Denken Sie nur nicht, das Landesarchiv Berlin würde über eine verkrustete, tote, von unserer Welt völlig abgetrennte Vergangenheit wachen. Lassen Sie sich von der Oberfläche der Dinge nicht täuschen. Sie dürfen Berlin nicht als eine Stadt sehen, die nur in ihrem Jahrhundert existiert. Das da ist ein anderes Berlin, üppig, spannend, es lebt in den kilometerlangen Regalen und Gängen einer einstigen Waffen- und Munitionsfabrik.

Etwa 20 von uns teilen jeden Tag diese unerlaubte Existenz. Im Lesesaal, über Türme von Akten gebeugt, empfinden wir eine einzigartige Freude daran, wie Marder zu wühlen, in unserer Besessenheit die verstreichenden Stunden und die in der Außenwelt hereinbrechende Nacht zu vergessen. Ohne Rücksicht auf unsere Kräfte stürzen wir uns in die dichte Vergangenheit aus Manuskripten, Karteikarten und Listen, Plänen, Fotos, trockenen Berichten aus Hunderten von Ämtern und Behörden, die unsere Stadt von je her zu erzeugen scheint. Wir schwenken um. Wir wechseln das Zeitalter. Im Lesesaal bleibt die Zeit stehen, während sie draußen weitergaloppiert.

Häufig frage ich mich, woher dieses zwanghafte Vergnügen kommt. Stunden in der Gesellschaft dicker Mappen verbringen, die Hände schwarz vom Staub, die Augen auf der Lauer, das Herz klopft bei jeder umgeblätterten Seite. Eine merkwürdige Beschäftigung und auf den ersten Blick durch und durch spröde. Und doch … Welche kindliche Freude, wenn man ein winziges Steinchen zum großen Berliner Puzzle ausgräbt! Wenn man im Dschungel der Zettel einen Namen wiedererkennt! Vielleicht reizt mich gerade das an den Archiven. Das gewaltige Gesetz des Zufalls. Man ist den Dokumenten ausgeliefert. Die Geschichte schreibt sich ganz allmählich weiter, in ihrem eigenen Rhythmus, ohne dass man sie in irgendeiner Weise beeinflussen könnte. Man sieht ihr zu, voller Demut.

Manchmal zerreißt ein unterdrücktes Lachen die Stille. Gestern habe ich mich eine Stunde lang in das Drama eines Berliner Miethauses vertieft, dessen Eigentümer 1920 beschloss, die Zentralheizung abzuschaffen und zu den Heizöfen zurückzukehren. Ich krümmte mich vor Lachen, als ich die umfangreiche Korrespondenz zwischen den aufgebrachten Mietern und der Baupolizei von Schöneberg las. Auf den ersten Blick ist dieses Thema alles andere als unterhaltsam. Aber der hölzerne Ton der Briefe, der empörte Aufschrei, als der dichte schwarze Qualm aus dem Erdgeschoss sämtliche Hausbewohner zu ersticken drohte. Und der Bericht des Schornsteinfegers – ein Genuss.

Am Tisch gegenüber von mir sitzt ein alter Mann niedergeschlagen über vergilbten Akten. „Oh, ist das traurig …“, seufzt er von Zeit zu Zeit. Dann schließt er den dicken Ordner mit einem trockenen Knall. Warum um alles in der Welt sucht die junge, hochschwangere Frau ein paar Tage vor ihrer Niederkunft eine Sterbeurkunde? Und dann wäre da noch die alte Frau mit der Baskenmütze, die auf der Ablage ihres Rollators sitzt. Sie krempelt sich die Ärmel hoch und verkündet mit gierigem Blick: „Ich bin in Jagdstimmung.“ Der zuckrige, fast milchige Geruch des Papiers berauscht sie. Sie ist Stammgast. Sie kommt oft, mit dem Taxi. Hier lebt sie ihre letzte Leidenschaft.

Der Lesesaal erinnert mich an die Mensa meiner Schule, die zum Abitur in einen Prüfungssaal umgewandelt wurde: kleine, streng isolierte Tische, und auf einem erhöhten Platz der Aufseher, der über die Ordnung wachte. Ein religiöses Schweigen, vom Lärm der Welt abgeschnitten. Hier verlangsamt sich die Zeit, die Geschichte geht mit kleinen Schritten voran, im Takt der Angestellten, die ihre Bücherwagen schieben. Ein altmodischer und poetischer Ort, pingelig und kreativ. Im Gegenlicht ziehen Staubfahnen über die hohen Fenster. Fetzen von zu trockenem Papier zerbröseln auf dem Teppichboden. Berlins Gedächtnis ist zerbrechlich.

Zur Schließzeit taucht man benommen wieder in der Wirklichkeit auf. Die Bezugspunkte sind verschwommen. Und einen Moment weiß man nicht mehr, wo das wahre Leben ist – zwischen den Aktenseiten, die man gerade zurückgelassen hat, oder im Autobahnstau zur Rushhour, in dem man sich langsam nach Hause

bewegt.

Aus dem Französischen

übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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