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Meinung: MON BERLIN Davon träumt der Bischof von Paris

Eine wahre Menschenflut bricht in diesen Tagen über Paris und Berlin herein. Beide Hauptstädte sind dem gleichen Chaos ausgeliefert: Bus-Korsos, die ihre Passagiere in der Innenstadt abladen, vollgepfropfte Sonderzüge, kreisende Hubschrauber, Fahrräder und Roller, die sich im Slalom durch Staus schlängeln, hilflose Polizisten, die sich bemühen, die Menschenströme zu kanalisieren.

Eine wahre Menschenflut bricht in diesen Tagen über Paris und Berlin herein. Beide Hauptstädte sind dem gleichen Chaos ausgeliefert: Bus-Korsos, die ihre Passagiere in der Innenstadt abladen, vollgepfropfte Sonderzüge, kreisende Hubschrauber, Fahrräder und Roller, die sich im Slalom durch Staus schlängeln, hilflose Polizisten, die sich bemühen, die Menschenströme zu kanalisieren. Die Herzen beider Städte drohen zu ersticken. An das Brandenburger Tor ist nicht ranzukommen. Von der Place de la Bastille bis zur Place d’Italie ist alles blockiert.

Und hier hört die merkwürdige Übereinstimmung auch schon wieder auf. Denn während ganz Frankreich auf den Beinen ist, um gegen die Rentenreform der Raffarin-Regierung zu demonstrieren, rutscht Deutschland auf den Knien, um andächtig das Unglück der Welt zu beweinen. Frankreich zählt seine Rentenpunkte, Deutschland betet Rosenkränze. 750 000 Eisenbahner, Rentner, Lehrer, Fluglotsen und Funktionäre in den Straßen von Paris: Davon träumen IG-Metall und DGB, die sich einen heißen Frühling erträumten, der ziemlich lauwarm ausfiel. 400 000 Christen, sowohl Katholiken als auch Protestanten, in den Straßen von Berlin: Davon träumt der Erzbischof von Paris und mit ihm alle Pastoren Frankreichs, die sonntags ihre Kirchen nicht voll bekommen.

Es wäre in Deutschland undenkbar, dass ebenso viele Menschen auf die Straße gingen, um gegen eine Gesetzesinitiative zu demonstrieren. Es braucht eine Love Parade oder mindestens einen Irakkrieg, um die Straßen von Berlin zu bevölkern. Unvorstellbar, dass die hiesigen Schulen seit dem Schulbeginn im September bereits ihren zehnten Streik organisieren könnten. Undenkbar, dass die Abiturprüfungen Gefahr laufen könnten, einem Streik zum Opfer zu fallen und 600 000 Jugendliche sich am Ende ihres Schuljahrs ohne Abschluss wiederfinden könnten. Unvorstellbar die totale Lähmung, die nächste Woche wieder einmal über Frankreich hereinbrechen wird. Unvorstellbar ein solcher kollektiver, hartnäckiger und ohne Zweifel vergeblicher Schlag ins Gesicht der Regierung, die den Demonstranten wacker die Stirn bietet.

Auf der anderen Seite fällt es schwer, sich in Frankreich, wo die Trennung zwischen Kirche und Staat und eine starke antiklerikale Tradition regieren, vorzustellen, wie zehntausende von Christen zusammenströmen, um am Kirchentag teilzunehmen, diesem größenwahnsinnigen Gemeindefest. Schwer, sich vorzustellen, wie der Kanzler einer Laien-Republik mit dem Weihwasserwedel flirten und sich auf Einladung von Klerikern mit der Zukunft Europas beschäftigen könnte. Schwer vorstellbar, dass republikanische Schulen für die Unterbringung von Pilgern mit Birkenstocksandalen requiriert werden könnten. Was sollte man auch am nächsten Montagmorgen den Kindern auf ihre mystischen Fragen antworten? Mein Sohn, erste Klasse, lebt in einer einfachen und bipolaren Welt. Es gibt Schalke und Leverkusen, die Cowboys und die Indianer, die Piraten und die Soldaten des Königs, Räuber und Gendarme – und seit einigen Tagen gibt es in Berlin die Katholiken und die Protestanten, und in Paris die Revoluzzer und die Bestimmer.

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“. Foto: privat

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