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Mon BERLIN: Der Ritter der Teetasse

England, eine Insel, durch einen Meeresarm vom Festland getrennt. Nicht richtig europäisch.

England, eine Insel, durch einen Meeresarm vom Festland getrennt. Nicht richtig europäisch. Im Grunde gehört es nicht zu uns. Irgendwie extra. Wohl wegen seiner schrägen Seite liebe ich es schon immer. Alle Schüler, die zu einem Sprachkurs in eine englische Küstenstadt reisen, erkennen sehr schnell: In keinem anderen europäischen Land fühlt man sich dermaßen fremd.

Ich war gerade ein paar Tage in Kent und habe ein auf den ersten Blick merkwürdiges, in Wahrheit aber sehr weises, Ritual wiedergefunden: Early morning tea. Eine sehr alte Tradition aus viktorianischen und edwardianischen Zeiten, heute fast nur noch in wunderbar old-fashioned Familien befolgt. Bevor das Dienstmädchen oder der Butler Feuer im Schlafzimmerkamin machte, servierte er dem Herrn früher eine Tasse Tee ans Bett. Heute ist es meist der Herr des Hauses, der sehr früh, manchmal schon im Morgengrauen, in die Küche hinabgeht, um den noch schlummernden Hausbewohnern eine Tasse Tee zuzubereiten. Während man noch im Bett liegt, hört man ihn Stufe um Stufe die Treppe hinaufsteigen, in den Händen die klappernden Tassen. Ganz sachte öffnet ein reizender, etwas schrulliger alter Herr in Morgenrock und Pantoffeln die Zimmertür. Um einen nicht zu wecken, schleicht er auf Zehenspitzen über den Teppichboden, nähert sich dem Bett und stellt die Tasse mit dem kochend heißen Tee auf dem Nachttisch ab. Ohne ein Wort zu sagen, verschwindet er wieder.

Der Duft des Tee steigt dem Schläfer in die Nase. Ganz sanft wacht man auf, man streckt sich, man setzt sich auf, stopft sich ein Kissen in den Rücken und, noch halb im Schlaf, schlürft man langsam den heißen stärkenden Tee. Vor den Fenstern zieht der Tag herauf, die Welt scharrt schon ungeduldig mit den Füßen. Drinnen die Wärme des Bettes. Keine Spur von Hast. Man nimmt sich Zeit, statt mit geschlossenen Füßen in den Tag zu springen und wie ein kopfloses Huhn durchs Haus zu rennen. Man ordnet seine Gedanken, man plant die vor einem liegenden Stunden, ganz benommen zögert man das Aufstehen noch ein wenig hinaus. Keine E-Mails, kein Radio, kein Frühstücks-TV, höchstens ein paar Wörter mit dem Bettnachbarn.

Der Early morning tea hat etwas Kontemplatives. Ihm fehlt die Hektik des Frühstücks im Bett mit sperrigem Tablett, kratzigen Krümeln auf dem Laken, Marmeladespuren auf dem Kopfkissen. Ein unaufdringliches und leicht zu vollziehendes kleines Ritual. Eine Verbindung zwischen dem erholsamen Schlaf und dem Moment, wo man das Bett verlassen und den Tag angehen muss. Eine Möglichkeit, die schlechten Träume wegzufegen oder sich noch einmal an die schönen zu erinnern. Ein schwereloser Übergang zwischen der Betäubung der Nacht und der Aktivität des beginnenden Tages. Man sammelt sich. Man kommt in dieser Welt an.

Nur schwer können die alten englischen Herren sich von ihrer heroischen Mission des frühen Morgens verabschieden. Denn wer den Early morning tea bringt, ist unbestritten der Hahn im familiären Hühnerhof. Darauf zu verzichten wäre ein wenig, als würde man seinen Führerschein zurückgeben … eine Abdankung, das Eingeständnis der eigenen Ohnmacht, der Anfang der Kränkungen, die mit dem hohen Alter einhergehen. Vielleicht ist der englische Teezubereiter das Äquivalent zum Würstchengriller in den deutschen Gärten. Ein richtiger Mann. Ein Oberhaupt. Nur ist der Teezubereiter mit seinem Satin-Bademantel so viel charmanter als der Bratwurstgriller mit seinem nackten, schweißüberströmten Oberkörper. Der morning tea bedeutet, dass jemand um das Wohl seiner Familie und seiner Gäste besorgt ist, dass er sie sanft und auf wunderbar zivilisierte Weise vor einem brutalen Erwachen schützen will. Der Ritter der Teetasse trägt sein kleines Reich in den Händen. Ein Ritual, das meiner Meinung nach eine Renaissance verdient. Die Berliner Hausherren müssten sich daran ein Beispiel nehmen.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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