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Mon BERLIN: Eine Novembernacht, in der die Herzen sprachen

Die Bilder jener Novembernacht 1989 kann ich nicht anschauen, ohne dass mir die Tränen in die Augen steigen und der Hals sich zuschnürt. Ich bin nicht die Einzige.

Zuerst dachte ich daran, an diesem ersten Novembersamstag über den unzeitigen Weihnachtsrausch zu schreiben, der uns in den Berliner Supermärkten schon seit Ende Oktober auf die Nerven geht. Aber die kleine Stimme der Vernunft ließ sich nicht zum Schweigen bringen: Das ist doch nicht dein Ernst? Ein so belangloses Thema ausgerechnet zwei Tage vor dem wichtigsten Jahrestag im Nachkriegseuropa? Du willst über verfrühte Lebkuchen bei Butter Lindner sprechen, während die Großen und Mächtigen der Welt sich mit großem Pomp am Brandenburger Tor versammeln? Unmöglich!

Na gut. Ich gab also nach. Thema dieses Samstags: 20 Jahre Fall der Berliner Mauer. Allerdings – seit drei Tagen zermartere ich mir das Hirn in der Hoffnung, in irgendeinem verborgenen Winkel eine originelle Idee auszugraben. Was soll man noch über diesen Jahrestag erzählen, dessen emotionale Bedeutung Gefahr läuft, von einer gigantischen medialen Überdosis ausgelöscht zu werden? Die gesamte Weltpresse bringt Sonderhefte heraus, und die Bilder der fröhlichen DDR-Bürger, wie sie zu Tausenden die Mauer passieren, laufen in Endlosschleifen über die Bildschirme des Planeten. In den Buchhandlungen türmen sich die entsprechenden Bücher zu Pyramiden. Dutzende Talkshows mit besserwisserischen Gästen, die die Ereignisse so lange sezieren und analysieren, bis diese historische Nacht ihre Magie verloren hat. Wie sehr ich auch suche – kein neuer Gesichtspunkt, kein Zeuge, der sein Herz nicht schon vor einem Mikrofon ausgeschüttet hätte.

Was könnte ich also noch über den 9. November schreiben? Ich könnte eine abfällige Grimasse ziehen und mich darüber aufregen, dass ausgerechnet Thomas Gottschalk gebeten wurde, das Fest am Brandenburger Tor zu moderieren. Mauerfall oder Gummibärchen, wo ist da der Unterschied? Es geht auch nicht darum, den Spielverderber zu geben und die angeordnete Freude zu kritisieren, die seit Monaten organisiert wird: von der Polizei, den einfallsreichen Werbeagenturen, den Scherpa-Kolonnen der Staatsmänner, die von der Kanzlerin eingeladen wurden, von den Feuerwehrleuten und den Bratwurstverkäufern. Und vor allem keine moralisierende Predigt über die Wiedervereinigung der Völker und den Wind der Geschichte, der in diesen Tagen durch die Berliner Straßen fegt.

Mit allen möglichen Ablenkungsmanövern habe ich mich vor der Arbeit gedrückt. Drei Espressos nacheinander, bis das Gehirn implodiert, nachschauen, ob Post gekommen ist, Mittagessen gehen, schnell noch was einkaufen. Doch keiner dieser Tricks hat geholfen: Der Monitor blieb makellos rein wie ein Feld mit frisch gefallenem Schnee. Keine einzige Idee hinterließ ihre Spuren. Ich muss mich der Wahrheit stellen: Ich habe nichts, absolut nichts, was ich dem schon Gesagten und wieder Gesagten hinzufügen könnte.

Und doch – ich kann die Bilder jener Novembernacht 1989 nicht anschauen, ohne dass mir die Tränen in die Augen steigen und der Hals sich zuschnürt. Ich bin nicht die Einzige. Jeder Berliner, ob aus dem Osten oder dem Westen, hat seinen eigenen 9. November. Jeder erinnert sich, was er an dem Abend gemacht hat, seine Überraschung, seine erstaunten Ausrufe.

Heute lächeln wir vor dem Fernseher, wenn wir die Vokuhila-Frisuren der jungen Ostdeutschen sehen, die blonden Dauerwellen der Mädchen, die ausgewaschenen Jeansjacken, den blassen Teint. Wie lange das schon her ist. Und wie erschreckt sie waren über das, was da plötzlich mit ihnen geschah. Die Freudenschreie, die Umarmungen, die Tränen.

Unmöglich, dieser Bilder überdrüssig zu werden. Sie brauchen keine kitschigen Kommentare, keinen Thomas Gottschalk, nicht einmal die auf den Stufen aufgereihten Staatschefs. Sie sprechen für sich. Die Berliner und wir Ausländer, die das ungeheure Glück hatten, an jenem Abend am Checkpoint Charlie zu sein, wir werden uns die Zeit nehmen, einen Moment innezuhalten, um an diese Nacht zurückzudenken. Weit weg von den offiziellen Festivitäten, von der Live-Inszenierung am Brandenburger Tor. Denn so sehr ich auch darüber nachdenke – ich glaube nicht, dass ein anderes Ereignis nach dem Krieg solche globalisierten Gefühle ausgelöst hat wie der Fall der Berliner Mauer. Nicht einmal der erste Mensch auf dem Mond, nicht einmal das verfrühte Erscheinen der Lebkuchen bei Butter Lindner.

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“

(aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke).

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