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Mon Berlin: Tatort Wohnzimmer

Der „Tatort“ ist ein zuverlässiger Zeitmesser, der in unserem Leben wie im Ablauf unserer Woche den Takt angibt.

Haben Sie schon mal in die Höhe geschaut, wenn Sie an einem Sonntagabend durch Berlins verlassene Straßen gehen? Haben Sie das bläuliche Licht bemerkt, das in Ihrer Straße hinter allen Fenstern flimmert? Haben Sie diese drohenden langen Schatten gesehen, die die Wände der stillen Wohnungen entlangschleichen? Die Telefone sind abgestellt. Die Handys antworten nicht. Der Sonntagabend: ein beunruhigendes Ritual, das sich heimlich, in der Intimität der Wohnzimmer, abspielt. Die kollektive Trance beginnt um 20 Uhr 15. Nach dem Wetter.

Der „Tatort“ ist ein zuverlässiger Zeitmesser, der in unserem Leben wie im Ablauf unserer Woche den Takt angibt. Zum Abschluss des Wochenendes markiert der Tatort eine letzte Atempause, eine Zäsur vor der neuen Woche. Er beschließt den Sonntag und eröffnet den Montag. Allerdings ist es nicht damit getan, dass man sich müßig im Sessel räkelt, während Hauptkommissar Max Ballauf auf der Jagd nach einem flüchtigen Delinquenten von Dach zu Dach springt. Man muss mindestens so viel Energie aufbringen wie er.

Interessanter als die Ermittlungen, die sich auf dem Bildschirm abspielen, sind meiner Meinung nach die Aktivitäten, die zu gleicher Zeit vor dem Fernseher stattfinden. Während der von einer kugelsicheren Weste beschützte Hauptkommissar Till Ritter unter den S-Bahn-Brücken ein Verfolgungsrennen mit dem Auto aufnimmt, weiß ich, dass manche Frauen sich die Beine enthaaren, andere wiederum eine Schicht Nagellack auf die Zehennägel auftragen. Während eine zu Mus gewordene Leiche in Himbeerschnaps verwandelt wird, gibt es, wie man mir berichtet hat, emanzipierte Männer, die ohne mit der Wimper zu zucken und mit großer Sorgfalt ihre Hemdenkragen bügeln und die Knöpfe wieder annähen, die im Lauf der Woche von ihren Jacken abgefallen sind. Über die gleichzeitig zum Tatort stattfindenden Tätigkeiten habe ich schon viel gehört: Vom Aussortieren alter Zeitungen bis zur Lohnsteuererklärung, vom Sudoku bis zum Schuheputzen, von der Bauchmuskelgymnastik auf einem kleinen Orientteppich bis zum Verfassen einer Glückwunschkarte zur Goldenen Hochzeit einer alten Tante.

Wer sich bei der mentalen Gymnastik besonders geschickt anstellt, kann sich telefonisch nach den Eheproblemen der Freunde erkundigen und gleichzeitig versuchen, mit Ernst Bienzle den Stuttgarter Serienmörder zu entlarven. Die Zeit muss genutzt werden, damit bis zum Montagmorgen alles fertig ist. Das Wohnzimmer wird zur Werkstatt. Man ist geschäftig. Man schneidet aus, man hämmert, man wienert, man schmirgelt, man malt. Auf dem Bildschirm: Vergewaltigung, Inzest, Korruption, Pädophilenring, Metzelei. Auf dem Sofa: Nagelfeile und eine Tasse grüner Tee.

Die Tatortkommissare sind nicht so unscheinbar wie Kommissar Maigret, den ich als Kind vergötterte. Bei Maigret gab es kein Blut, höchstens einmal ein paar Faustschläge. In seinem ewigen Regenmantel stocherte Maigret mit ernster Miene in seiner Pfeife. Er ähnelte weder einem Großstadtplayboy noch einem rührenden Verlierer, sondern, in Schwarzweiß, einem Durchschnittsfranzosen in einem melancholischen Frankreich, in einer tristen Provinz. Viel Regen und Nebel. Viel Langeweile und heruntergeschluckter Hass. Familiengeheimnisse und erstickende bürgerliche Moral. Keine Charlotte Lindholm, keine Lena Odenthal. Ein Frauenbild dagegen, das alles mitbringt, was Eva Herman begeistern müsste: Aufmerksam, ihrem schweigsamen Ehemann völlig ergeben, servierte Madame Maigret die Gemüsesuppe. Liebenswürdig und meistens per Telefon nervte sie den armen Maigret mit ihren mütterlichen Ratschlägen. Es war eine andere Zeit. Im Tatort wie im Leben hat die Gewalt in der Welt der Erwachsenen zugenommen.

Die Kinder wissen das genau. Am Sonntagabend springen sie immer wieder aus dem Bett, schleichen auf Zehenspitzen die Flurwände entlang und stecken den Kopf durch die Tür: „Wann dürfen wir denn endlich mal den Tatort sehen?“ Der Tatort ist ein Übergang, eine Initiation, die Leiter, die von der Unschuld der Kindheit in das wahre Leben mit seinen Leichen, seinen Unterschlagungen, seinen gefährlichen Liebschaften führt. Wer am Sonntagabend den Tatort sehen darf, ist in das Erwachsenenalter eingetreten und wird zudem die Woche mit einem gut gebügelten Hemd und glatten Beinen beginnen.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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