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Meinung: MON BERLIN Wer fürchtet sich vorm kleinen Kind?

Ein Kind zu bekommen gleicht in Deutschland einer unbedachten Torheit, einem sicheren Absturz in die Gosse des Lumpenproletariats, einer Einbahnstraße in die intellektuelle Verwahrlosung. Glaubt man den alarmierenden Umfragen in der Presse und den Gesprächen auf Berliner Spielplätzen, dann ist das Kinderkriegen hier weder ein natürlicher Akt noch ein Vergnügen, und eine Bereicherung des Lebens schon gar nicht.

Ein Kind zu bekommen gleicht in Deutschland einer unbedachten Torheit, einem sicheren Absturz in die Gosse des Lumpenproletariats, einer Einbahnstraße in die intellektuelle Verwahrlosung. Glaubt man den alarmierenden Umfragen in der Presse und den Gesprächen auf Berliner Spielplätzen, dann ist das Kinderkriegen hier weder ein natürlicher Akt noch ein Vergnügen, und eine Bereicherung des Lebens schon gar nicht.

Da sind zunächst einmal die technischen Unwägbarkeiten: die angeschlagene Volkslibido, die ansteckenden Geschlechtskrankheiten (glaubt man übrigens George W. Bush, dann ist Abstinenz die einzige Methode, mit der sich die Jugend vor Geschlechtskrankheiten schützen kann – vielen Dank, Herr Bush, für diese raffinierte Lösung, die mit Sicherheit dazu beitragen wird, die demographische Krise zu überwinden!), die verminderte Qualität des Spermiums, die rückläufige Fruchtbarkeitsrate der Frauen, die Gefahren einer Geburt auf natürlichem Wege …

Da ist die finanzielle Misere: Steuern, die die Nachkommenschaft nicht berücksichtigen, die Kita-Gebühren, die in Berlin astronomisch gestiegen sind, die Markenklamotten für die Kinderchen, das Studium, das über den dreißigsten Geburtstag hinaus bezahlt werden will. Und das Scheitern des Generationenvertrags, mit dem die Renten in Frage gestellt werden …

Dann ist da der Mangel an Betreuung: nahezu keine Kinderkrippen, nicht genug Kindergartenplätze, keine Vollzeitschulen, Gymnasien ohne Kantine. Und in Berlin ist man ja noch verwöhnt! Versuchen Sie mal, in Bayern einen Kinderhort zu finden! Seit dem „Schock“ von Pisa ist die Suche nach „guten“ Schulen und „engagierten“ Lehrern zu einer beängstigenden Obsession geworden. Zumal auf dem Schulhof weitere Gefahren lauern: Gewalt für die Jungen, Magersucht für die Mädchen …

Nicht zuletzt ist da die Schande, wenn – jetzt wollte ich glatt „die Eltern“ schreiben, aber natürlich sind in diesem Land die Alleinverantwortlichen „die Mütter“ – , wenn sie ihr Kind betreuen lassen. Und diese Klischees, von denen sich die deutschen Frauen einengen lassen! Auf der einen Seite die Karrierefrau mit dem Herz aus Eis, eingeschnürt in ihr anthrazitfarbenes Business-Kostüm, mit Netzstrümpfen und Pfennigabsätzen. Auf der anderen Seite die geschlechtslose Hausfrau in Schlabberpulli und Rucksack – in dem sie die Windeln ihres 1,35sten Kindes transportiert.

Ich bin kein Ass im Kopfrechnen, aber aus all diesen Faktoren schließe ich mit Leichtigkeit, dass die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland ein Kind zur Welt zu bringen, in etwa so hoch ist wie die eines Lottogewinns. In diesem Moment klingelt das Telefon. Alexander, ein junger Rumäne mit barockem Akzent, lädt mich ein, an einer Ziehung der Norddeutschen Klassenlotterie teilzunehmen. Er zählt die Gewinne in absteigender Reihenfolge auf: 1. Ein Auto. 2. Ein Luxus-Traumhaus in Spanien. 3. Eine monatliche Rente von 3000 Euro für die nächsten zehn Jahre. Ich lege hastig auf. Ich werde doch nicht vergessen, dass das Leben schön und leicht sein kann. Zeit, die Jungs vom Kindergarten abzuholen!

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“. Foto: privat

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