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Mon Berlin: Wie ich gegen Freundlichkeit immun wurde

Wenn man in Berlin lebt, gewöhnt man sich sehr schnell an die flegelhafte Behandlung. Ich störe mich nicht mehr an der Hornhaut auf den Wörtern, an den genervten Seufzern bei der harmlosesten Frage. Im Gegenteil: In München ist mir die Freundlichkeit verdächtig: Ich bin auf der Hut.

Nee, dit is Ihr Problem!“, herrscht mich der Busfahrer an, der uns vor dem Flughafen Schönefeld erwartet. Ich habe ihn gerade gefragt, welche Möglichkeiten wir haben, zu dieser späten Stunde nach Hause zu kommen. Mitternacht ist vorbei. Es ist stockfinster. Ein eisiger Regen hat uns bis auf die Knochen durchnässt. Weit und breit kein Taxi. Nur dieser große schlecht gelaunte Bus. Er steht für die in London Gestrandeten bereit. Wir, etwa 100 Passagiere, haben den neuen Terminal 5 von Heathrow überlebt. Einige haben, auf den Sitzbänken liegend, zwei Tage auf ihren Flug nach Berlin gewartet. Andere waren bereit, ohne ihr Gepäck abzufliegen. Mein Sohn und ich haben ausgedehnte Spaziergänge in diesem mit obszönem Luxus und kapriziöser Effizienz ausgestatteten Flughafen gemacht, wo man Austern von Oléron und schottischen Lachs bekommt, wo jedoch die Flugzeuge Ewigkeiten auf dem Rollfeld faulenzten.

„Sorry, love“, sagte uns die Hostess, als sie uns mitteilte, dass unser Flug eine mehrstündige Verspätung hatte. Und dabei zog sie eine so verzweifelte Grimasse, dass wir glaubten, sie werde gleich in Tränen ausbrechen. „Und sie nennt dich ,meine Liebe‘?“, fragte mein Sohn beunruhigt. Ich erklärte ihm, dass „love“ ein bisschen wie „junge Frau“ auf Berlinerisch ist. „Ja, also ganz jung bist Du auch nicht mehr, love!“, rief da der kleine Kavalier.

Spät in der Schönefelder Nacht glauben wir, das Schlimmste überstanden zu haben. Den Koffer in der Hand und mit nur wenigen Stunden Verspätung sind wir zurück in der Heimat, in diesem Deutschland, wo immer noch fast alles im Ruf steht, makellos zu funktionieren. Allerdings haben wir die legendäre Berliner Liebenswürdigkeit vergessen. „Nee, dit is Ihr Problem!“ Die Antwort saust herunter wie ein Fallbeil. Eine Dreiviertelstunde müssen wir auf den Bus warten. „Vielleicht een bisschen länger. Weeß ick doch nich, wann alle Passagiere durch sind!“ In Berlin gilt eine ganz besondere Etikette: schnörkellos, ruppig, direkt. Da weiß man wenigstens, wo man steht: allein in der großen Berliner Nacht, janz weit weg von seinem warmen Bett.

Die Freundlichkeit der Engländer dagegen ist irritierend. Man muss in den Straßen von London nur einen Stadtplan auseinanderfalten, und schon stürzen sich mindestens drei Passanten auf einen und würden einen am liebsten bis ans Ziel begleiten, damit man sich auch wirklich nicht verläuft. In einer Woche Buckingham Palace–London Eye–Madame Tussauds haben wir uns schnell an das mit honigklebriger Stimme geäußerte „Thank you very, very much …“ gewöhnt. Und als wäre das noch nicht genug, lassen die Londoner noch ein „indeed“ und eine lange Pause am Satzende folgen. Dieses kleine Wort kann man auf Deutsch oder Französisch nicht wiedergeben, es soll einfach nur das „dankeschön“ verstärken, ihm Volumen, Glaubwürdigkeit verleihen, vielleicht auch Sanftmut. Indeed – das ist das Berliner „wa!“ Denn das Berlinerische kennt keine blumigen Floskeln, keine Arabesken der Höflichkeit, von denen einem schwindlig wird. Wa und basta.

Die Grobheit der Pariser ist allgemein bekannt, und es wäre naiv, wollte man in den gestressten Metropolen unserer Zeit Höflichkeit erwarten. Doch wenn man in Berlin lebt, gewöhnt man sich sehr schnell an die flegelhafte Behandlung. Ich störe mich nicht mehr an der Hornhaut auf den Wörtern, am Stirnrunzeln, an den genervten Seufzern bei der harmlosesten Frage. In München habe ich immer den Eindruck, dass die Leute etwas von mir wollen. Der milde Ton kommt mir verdächtig vor. Ich bin erstaunt, ich drehe mich um: Kennen wir uns? Habe ich heute vielleicht Geburtstag? Warum plötzlich so freundlich? Ich bin auf der Hut.

Aber was wäre Berlin, würde es den Knigge befolgen? Berlin ohne seine raue Schnauze? Plötzlich, mitten in der Nacht, von einem Berliner Busfahrer angerüffelt wie eine Kriminelle, werde ich von masochistischer Zärtlichkeit überwältigt. Willkommen in Berlin! Wa!

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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