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Tagesspiegel-Kolumnistin Pascale Hugues liest und diskutiert im Tagesspiegel-Salon.

© Thilo Rückeis

Mon BERLIN: Monsieur Lefêvre mit dem Zirkumflex

Aus der Joachimstaler Straße wird jetzt die Joachimsthaler Straße. Aber warum wird aus der Lefévrestraße plötzlich eine Lefèvrestraße?

Die Täufer der Berliner Straßen nehmen es mit der Orthografie nicht so genau. Wochenlang hat die ganze Stadt sich darüber erregt, dass das „h“ bedauerlicherweise an der Feder hängen geblieben ist, als der Name Joachimstaler Straße in das Straßenverzeichnis von Charlottenburg eingetragen wurde. Erst auf ihre alten Tage wurde der Fehler korrigiert: Die Joachimsthaler Straße hat ihren verlorenen Buchstaben zurück. Ein rachsüchtiges kleines „h“ hat sich zwischen das „t“ und das „a“ geschoben. Das Recht hat gesiegt!

In einer anderen Straße im Herzen von Friedenau mache ich seit langer Zeit wirklich seltsame Beobachtungen. Sie ist kurz und verbindet die Bundesallee in scheinbar ruhigen Schritten mit der Hertelstraße. An der Schwelle zum vorigen Jahrhundert erbaut, wird sie von Bäumen und parkenden Autos gesäumt. Man hört die Vögel singen. Nachts streifen Füchse herum. Sie wirkt so friedlich wie eine Straße in der Provinz, und sicher ist ihr Ruf ohne Fehl und Tadel.

Aber lassen Sie sich davon nicht täuschen! Bleiben Sie einen Moment stehen und betrachten Sie die sich genau gegenüberstehenden Straßenschilder. Auf dem einen lesen Sie „Lefévrestraße“. Auf dem anderen: „Lefèvrestraße“. Der Akzent wurde einfach von rechts nach links gefegt. Aus dem accent aigu wurde der accent grave. Seit Jahren wundere ich mich immer wieder über die beiden Straßenschilder – sie scheinen sich einen spitzfindigen akademischen Kampf zu liefern. „é“ oder „è“ – wer schmückt sich mit dem richtigen accent? Wer behält das letzte Wort?

Bei meinem letzten Besuch dort habe ich mich allerdings gefragt, ob es sich wirklich nur um ein orthografisches Wirrwarr handelt. Welche Geschichte mag sich hinter diesem offensichtlichen Durcheinander in Wirklichkeit verstecken? Als hätte eine plötzliche Bö Lefévre beim Überqueren der Straße getroffen und den Accent auf seinem Kopf verrückt. Vom spitzen „é“ zum schweren „è“, von der Freude zur Trauer, vom Optimismus zur Depression, vom Unbekümmerten zum Schrecken. Schauen Sie den Monsieur Lefévre an: zweifellos Hugenotte. Mit leichtem Schritt und einem Lächeln auf den Lippen tritt er vom Trottoir herunter. Er geht über die Straße. Und sobald er den Fuß auf den gegenüberliegenden Bürgersteig – den mit dem accent grave – setzt, werden seine Glieder schwer, sein Gemüt verdüstert sich. Vielleicht stößt er einen Schrei aus. Was ist zwischen „é“ und „è“ passiert? Welcher Abgrund hat sich aufgetan? Welche monströse Kreatur hat sich im Vorgarten gezeigt? Welche unheimliche Erscheinung hat die Atmosphäre eines strahlenden Mainachmittags 1905 verpestet? Denn an genau diesem 25. Mai am Beginn des Jahrhunderts wurde die Straße aus der Taufe gehoben. Stoff für einen Roman über „é“ und „è“.

Und wer ist dieser Lefèvre eigentlich? Google legt mehrere Fährten: Da ist einmal Robert Jacques François Faust (Faust! Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass der Teufel seine Finger im Spiel hatte!), ein klassizistischer Porträt- und Historienmaler. Dann Rachelle Lefèvre, eine kanadische Schauspielerin, die eine Vampirin gespielt hat. Auch nicht gerade sehr beruhigend. Oder, manierlicher, Jacques Lefèvre, Theologe und Humanist, der als Erster die Bibel ins Französische übersetzt hat, und Christophe Lefèvre, Garten- und Landschaftsbau … Aber einen Monsieur, eine Madame Lefévre gibt es nicht. Ein accent aigu auf Lefévre? Im Französischen einfach absurd.

Und das bringt uns wieder auf den berlinischen Teppich und zurück zu dem schlichten Robert Lefèvre, Geheimer Kanzleirat und Kommunalpolitiker in Friedenau. Einer der ersten Bewohner dieses Viertels, das mit einem Mal am Rand von Berlin, der jungen Hauptstadt des geeinten Deutschlands, emporschoss. In der Gemeindevertretung verwaltete Robert Lefèvre den Bereich Armenwesen und kämpfte für den Bau einer Kirche in Friedenau. Genug herumgesponnen: Das „è“ und das „é“ verdanken sich hier nur der Unaufmerksamkeit eines Rathausschreibers, der des Französischen nicht ganz mächtig war.

Aber ich, ich frage mich trotzdem: Welche abenteuerliche Geschichte würde uns Monsieur Lefêvre erzählen, wenn er das elegante Hütchen, den accent circonflexe, auf dem Kopf tragen würde?

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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