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Meinung: Mut zu einer neuen Tagesordnung

Die neuen Bedrohungen verlangen vor allem nach politischen Antworten Von Katrin Göring-Eckardt

Totgesagte leben länger. Das Ende der Nato wurde in den letzten Jahren so häufig vorhergesagt, dass wir uns um ihre Zukunft wohl keine Sorgen machen müssen. Entgegen allen Unkenrufen hat sich die Allianz seit Ende des Kalten Krieges bewährt. Sie reagierte auf neue Herausforderungen, in innerstaatlichen Konflikten und zunehmend außerhalb Europas. Sie entwickelte neue Fähigkeiten für NationBuilding-Prozesse und erweiterte sich nebenbei nach Osten. Die Nato hat maßgeblich dazu beigetragen, das Militär von ehemals sozialistischen Staaten mit den Programmen „Partnership for peace“ in gemeinsame Debatten und Strukturen einzubinden und damit eine Renationalisierung von Sicherheitspolitik zu verhindern. Ohne die Aktivitäten und Kapazitäten des Bündnisses hätten wir auf dem Balkan vielleicht den ersten Genozid auf europäischen Boden seit dem Holocaust mit ansehen müssen. Ohne die Nato wären die Wahlen in Afghanistan wahrscheinlich undenkbar gewesen.

Dennoch sieht sich die transatlantische Allianz mit gravierenden Defiziten konfrontiert. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich das Gesicht unserer Welt verändert. Seit Jugoslawien, seit Ruanda und dem 11. September haben sich auch unsere potenziellen Bedrohungen massiv gewandelt.

Was bedeutet Sicherheit heute, wie kann sie geschaffen werden, wer kann sie garantieren? Die Nato hat vieles richtig gemacht in den letzten Jahren, und doch ist sie diese Fragen bislang kaum systematisch angegangen. Die existenzielle transatlantische Verbundenheit früherer Jahre wurde seit dem Ende des Kalten Krieges auf keine erneuerte Grundlage gestellt.

Die Rumsfeld-Devise „Die Mission bestimmt die Koalition“ hat dies gezeigt und zu einer weiteren Schwächung der Nato beigetragen. Ein Bündnis bedeutet gemeinsame Entscheidungen auf der Basis gemeinsamer Werte und Interessen – und keine Alleingänge einzelner Mitglieder. Zugleich hat die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik an Bedeutung gewonnen, vor allem im zunehmend wichtigen zivilen Bereich.

Eine politische Reform der Nato ist dringend notwendig, um diesen Defiziten zu begegnen. Derzeit widmen sich die Vereinten Nationen dem umfassendsten Reformprozess seit ihrer Gründung. Was dort diskutiert wird, verdient auch in Bezug auf die Nato nähere Betrachtung. Zum einen geht es um mehr gleichberechtigte Mitsprache derer, die seit langer Zeit international Verantwortung übernehmen. Dazu gehört auch Deutschland. Zum anderen um die Umsetzung einer umfassenden kollektiven Sicherheitspolitik. Die Risiken und potenziellen Bedrohungen im 21. Jahrhundert liegen nicht mehr in erster Linie in der Gewalt zwischen Staaten. Es geht heute um innerstaatliche Gewalt, um Armut und Umweltzerstörung, um die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, um Terrorismus und internationales Verbrechen. All diese Bedrohungen können primär nicht militärisch gelöst werden.

Terroristen lassen sich von einem ABC-Arsenal nicht abschrecken und zerfallende Staaten auch mit Elitesoldaten nicht aufbauen. Die neuen Bedrohungen verlangen globale Antworten, und sie verlangen zuerst politische Antworten.

Es ist also unerlässlich, dass sich die Nato als politischer Akteur versteht. Sie ist das einzige umfassende Bündnis von Demokratien der westlichen Welt. Ihr politisches Potenzial ist längst nicht ausgeschöpft. Verstärkte internationale Kooperation kann der Nato dabei zu neuer Anerkennung verhelfen. Wie Kofi Annan betont hat, kann und sollte die Nato sich insbesondere, ebenso wie die EU, als unterstützender Akteur für ein reformiertes UN-System verstehen. Wir brauchen jetzt den Mut für einen echten Neuanfang. Und für eine neue Tagesordnung.

Die Autorin ist Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag.

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