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My Berlin: Von Heuchlern und Tibetern

Es wäre politisch redlich, den Dalai Lama in Berlin zu empfangen. Die Koalition sendet die falsche Botschaft.

Der Mann mit dem albernen Lächeln, 70er-Jahre-Kassenbrille, Birkenstocks und der Safrankutte kommt einem irgendwie bekannt vor. Schlürft einen Himbeer-Frapuccino mit einem Schuss Karamell im Starbucks am Ku’damm. Ja, das war sicher der Dalai Lama, ganz allein in Berlin. Vollkommen nachvollziehbar: Wenn der einzige Freund Roland Koch heißt, wer würde dann nicht lieber allein absurd teuren Kaffee trinken und, wie sonst auch, über die sieben (sechs? acht?) Wege zum Glück nachdenken?

Viele weise Männer – Keynes, Oscar Wilde – haben behauptet, es sei Ausdruck intellektueller Reife, seine Meinung zu ändern. Ich bin eigentlich überhaupt kein Anhänger von Veränderung. Gefällt mir eine Hose, dann trage ich sie jeden Tag, bis sie auseinanderfällt, und ein wenig geht es mir auch so mit meinen politischen Überzeugungen. Aber im Fall des Dalai Lama muss ich mich korrigieren. Vor einigen Monaten habe ich Angela Merkel kritisiert, weil sie den Dalai Lama getroffen hat. Es wirkte wie ein weiterer folgenloser Akt aus dem Versöhnungstheater, das die Spezialität der Kanzlerin zu sein scheint. Worum ging es – ein Interesse am Buddhismus deutlich zu machen? An Spiritualität? An Tibet? Am Prinzip autonomer Herrschaft in Polizeistaaten? Oder darum, eine kritische Haltung zu den Menschenrechten in China zu heucheln, wohl wissend, dass die deutsche Wirtschaft auch dann noch dort Handel betreiben wird, wenn (Gott bewahre!) regimekritische Mönche an den Laternen aufgeknüpft werden? Ich war deshalb auf Steinmeiers Seite: Es schien ehrlicher, den Dalai Lama als einen unbedeutenden geistlichen Führer zu betrachten, der über gute Freunde in Hollywood verfügt.

Jetzt bin ich anderer Meinung. Ganz klar, es wäre politisch redlich, den Dalai Lama in Berlin zu empfangen. Die Chinesen selbst haben ihn zu einer wichtigen politischen Figur hochgestuft. So beschreibt ihn die kommunistische Führung in Peking: „ein Schakal in Buddhistenrobe und ein böser Geist mit menschlichem Antlitz und dem Herz einer Bestie“. Sogar Joschka Fischer in Hoch-Zeiten hätte gezögert, sich eines solchen Vokabulars zu bedienen. Während des Treffens im Kanzleramt gab es noch wenig zu besprechen. In dieser Woche gibt es Themen ohne Ende – stattdessen verstecken sich alle unter ihren Tischen, um bloß nicht mit dem Mann in Safran fotografiert zu werden. Berlin sollte eine objektive Untersuchung der Vorfälle in Tibet fordern und internationale Beobachter für die Prozesse gegen Tibeter, die Chinesen dazu bewegen, die Provinz für internationale Journalisten zu öffnen, und Peking daran erinnern, dass ihre Verfassung die Religionsfreiheit garantiert. Vielleicht macht Steinmeier all das hinter verschlossenen Türen, aber jetzt ist der Zeitpunkt, es auch öffentlich zu tun. Wenn die Kanzlerin den Dalai Lama trifft, um ihre Haltung zu den Menschenrechten öffentlich zu unterstreichen, dann sollte sie von dieser Position nicht abrücken, wenn es hart auf hart kommt.

Merkel hatte eine gute Ausrede, den Dalai Lama nicht zu treffen: Sie ist gar nicht im Land. Steinmeier wiederum, so könnte man argumentieren, war wohl einfach zu erschöpft, nachdem er eine Woche lang in Russland beinhart die Menschrechte verteidigt hatte. Und der Präsident? Horst Köhler, der über der Parteipolitik schwebt, beschäftigt sich doch sonst auch immer mit dem ethischen Leben der Deutschen.

Ich habe nichts gegen Heuchelei. Wie auch, ich bin Engländer. Sie ist – wie ein faszinierendes neues Buch des Politologen David Runciman („Political hypocrisy: the Mask of Power from Hobbes to Orwell and beyond“) erklärt – das notwendige Schmiermittel in der politischen Maschine. Runciman unterscheidet die „Heuchelei erster Ordnung“, bei der Politiker die öffentliche Rede nutzen, um Laster als Tugend zu verkleiden, von der „Heuchelei zweiter Ordnung“, bei der Politiker diesen Vorgang vor sich selbst geheim halten. Ersteres, die Kultur der Übertreibung und der gutmütigen Täuschung, ist Teil sozialer Existenz; Letzteres ist gefährlich.

Es ist genau das, wessen sich die Regierung schuldig macht: Sie versucht sich selbst davon zu überzeugen, dass sie den Menschenrechten dient, indem sie den exilierten geistigen Führer Tibets ignoriert – obwohl sie ihn in die Arme geschlossen hat, als die politischen Kosten gering waren. Was für eine Botschaft sendet ein solches Verhalten an Unternehmen, bei denen Korruption und moralische Schlechtigkeit Teil des einst so stolzen Etiketts „Made in Germany“ geworden sind?

Die deutschen Wähler fordern Klarheit nicht nur im politischen Handeln, sondern auch in der Sprache. Und die sucht man bei der großen Koalition vergeblich.

Aus dem Englischen übersetzt von Moritz Schuller.

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