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My BERLIN: Warum Yanping Wu Berlins Nörgler preist

In meinem britischen Erziehungscamp, Jahre ist es her, waren wir gezwungen, Latein und Griechisch zu lernen – und die meisten von uns haben danach nie wieder einen Rentner verprügelt. Von Roger Boyes

Es gibt offenbar gute Gründe, die alten Sprachen zu lernen, auch wenn einem Tacitus ziemlich viel Gewalt anbietet. Mein Lieblingsdichter war Aischylos, der schrieb im „Agamemnon“: „Drum weint auch im Traum im Herzen noch Kummer, leideingedenk.“ Schmerz, seelischer und körperlicher, kriecht ins Leben wie in den Schlaf. Und dann passiert etwas: Der Schmerz wird verwertbar. „Und es keimt wider Willen weiser Sinn. Wohl heißt streng und schonungslos der ewgen hochgethronten Götter Gunst!“

Nun, so geht es mit gerade, physisch. Überall tut es mir weh, so als ob ich sechs Runden mit Regina Halmich hinter mir hätte, der Frau, die allen einen Gefallen tat, als sie Stefan Raab verdrosch. Dieses Mal, dachte ich, gehe ich nicht zu meinem sympathischen, aber überarbeiteten Schulmediziner. Stattdessen – Schmerz bringt Weisheit! – ging ich zu einer Kennerin der chinesischen Medizin. Elke Johnson, hörte ich, sei eine der besten in Berlin. Sie ist ohne Frage die charmanteste. Ihre Sammlung von Kräutern und Medikamenten ist wirklich eindrucksvoll, voller Überraschungen selbst für die hartgesottensten RTL- Dschungel-Fans: getrocknete Regenwürmer, klitzekleine Mammutknochen, die Außenhaut einer Zikade. Allein an diesen Dingen zu riechen (sie hat auch konventionelle, aber nützliche Kräuter wie Zimt und Kardamon), verbesserte schon meinen Gesundheitszustand.

Chinesische Ärzte kamen in den 20er Jahren nach Berlin, als die Straßen rund um den Schlesischen Bahnhof so eine Art Chinatown waren. Andreasstraße, Markusstraße und (meine persönliche Favoritin) die Krautstraße trugen den Namen „Gelbes Quartier“. Es gab dort Akupunkteure, Kräuterärzte – und anders als heute konnten sie praktizieren, wie sie wollten, ohne deutsche Überregulierung. Deutschland ist meiner Ansicht nach nicht genetisch programmiert, Risiko zu vermeiden und vor Ausländern Angst zu haben. Diese Ängstlichkeit entstand in den 60ern, als die Pharmalobby aufkam, der Hang zum Protektionismus, dazu unsouveräne Ständeorganisationen (Anwälte und Ärzte sind da die schlimmsten) und arrogante Gewerkschaften auf den Plan traten. Chinesische Medizin könnte diese Stadt bereichern und mit ihrer sorgfältigen Balance zwischen Körper und Seele eine Lücke schließen. Stattdessen wird sie von einer sinnlosen Bürokratie ausgegrenzt.

Tatsache ist, dass Einwanderung Berlin schon immer bereichert hat. Aber es ist ein Kampf, und heute mehr denn je, Berliner dazu zu bringen, das Neue zu akzeptieren – selbst in den homöopathischen Dosen, die ihnen von der chinesischen Gemeinde angeboten werden. Das Problem der Berliner ist nicht Intoleranz, sondern der Mangel an Neugier.

In dieser Woche begann das chinesische neue Jahr – das Jahr der Ratte – und deshalb ging ich ins Tai Ji in der Uhlandstraße. Ein verwirrender Ort für jeden Berliner, der beim Chinesen am liebsten in Nummern bestellt („Ich hätte gern die 98, und meine Frau nimmt die 36, dazu viel 67. Ach, und ein Beck’s“). Im Tai Ji haben die Gerichte so dichterische Namen wie „Acht Unsterbliche auf ihrem Weg über das Meer“ – ba xian guo hai –, das aus acht Gemüsen mit Bröseln besteht. Vielleicht ist es das, was der chinesische Beitrag zu dieser Stadt sein kann: ein Sinn für die Poesie des Alltags, ob beim Arzt oder in der Küche.

Ich war im Tai Ji mit einem chinesischen Filmemacher, der auch sehr verdichtet über seinen Gebrauch von Farben sprach, über die Bedeutung der Augen bei der Schauspielerei, darüber, wie die Mächtigen eher aus ästhetischen als als politischen Gründen bloßgestellt werden können – nicht weil man so dem Zensor entgeht, sondern weil die Menschen stärker auf Hässlichkeit als auf Ungerechtigkeit reagieren.

Es ist lange her, dass ich eine solche Unterhaltung mit einem deutschen Intellektuellen hatte. Vielleicht ein Zufall. Meiner Erfahrung nach aber meckern die lieber über Geld, Steuern, Subventionen und die große Koalition. Kann Kunst in einer Welt entstehen, die so voller Neid ist? Genauer: Kann Berlin eine großartige Stadt sein, solange es die ausländischen Gemeinschaften als unnötig oder störend empfindet? Einer der großen Meister chinesischer Akupunktur in Berlin ist Yanping Wu. Sie wendet, typischerweise, die Berliner Nörgelei ins Positive: „Es ist eine Form, miteinander in Kontakt zu treten“, sagt sie. „Wenn man in Gemeinschaft jammert, reguliert man die Chemie untereinander.“ Nun, das ist beruhigend. Vielleicht werden eines Tages Berlins Yin und Yang eine Balance bilden.

Aus dem Englischen übersetzt von Moritz Schuller.

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