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Meinung: Nachbarn Europas

Wie es im Nahen Osten weitergeht, hängt auch vom Westen ab Von Hans-Dietrich Genscher

Der Tod Jassir Arafats hat ein vielfältiges und vielschichtiges Echo in der ganzen Welt ausgelöst. Das konnte bei dem Weg, den er gegangen ist, nicht anders sein. Die Bedeutung, die seinem Tod zugemessen wird, gilt einem Mann, der in seinem halb zerstörten Dienstsitz, praktisch unter Arrest gestellt, von Anhängern und Gegnern als eine Schlüsselfigur für den Nahen Osten eingeschätzt wurde. Für die Palästinenser war er das Symbol ihres Strebens nach einem unabhängigen Palästinenserstaat. Diese Forderung wird bleiben, sie ist nicht mit Arafat gestorben.

Deutschland, das sich aus historischer und moralischer Verantwortung untrennbar mit Israels Schicksal verbunden fühlt, hat fast auf den Tag genau vor 30 Jahren vor den Vereinten Nationen als erstes westliches Land das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes anerkannt. Die deutsche Außenpolitik gab damit die Richtung für eine westliche Nahostpolitik an. Zu deren Kern gehört das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser, es ist heute ebenso Allgemeingut aller westlichen Lösungsvorschläge wie die wenige Jahre später verabschiedete EGEntschließung von Venedig.

Nach dem Tod Arafats wird die politische Landschaft, in der für die Völker im Nahen Osten, vor allem aber für Israel und für die Palästinenser Stabilität und Frieden geschaffen werden soll, neu vermessen. Dabei stehen alle Seiten auf dem Prüfstand, zuallererst Israel und die Palästinenser selbst. Das Ziel muss es sein, eine Friedensordnung zu schaffen, in der der Staat Israel und der noch zu schaffende der Palästinenser friedlich nicht nur nebeneinander, sondern miteinander leben können.

Dauerhafte Stabilität indessen verlangt mehr. Die Region braucht einen Grundkonsens über die künftige Entwicklung – so, wie die Europäer mit der KSZE die Rahmenbedingungen schufen, in denen die Teilung Deutschlands und Europas friedlich überwunden werden konnte. Die jahrzehntelang für unmöglich gehaltene Lösung der deutschen Frage konnte gelöst werden. Es gibt in der Außenpolitik keine unlösbaren Probleme. Wohl aber gibt es den Willen und die Fähigkeit zur Lösung oder die Lösungsverweigerung. Das wird der Lackmustest.

Der Kern der Probleme im Nahen Osten ist der palästinensisch- israelische Konflikt. Er kann weder im Irak gelöst werden noch in Iran oder Syrien, sondern nur zwischen dem israelischen und dem palästinensischen Volk.

Beide haben dabei Anspruch auf die Unterstützung der Staatengemeinschaft. Es kommt jetzt darauf an, dass Washington sich entschlossen um eine Lösung bemüht, wie sie in der Road Map vorgezeichnet ist. Die wichtige Rolle der USA kann aber die Rolle Europas nicht ersetzen. Europa leistet durch seine Mittelmeerpolitik einen großen Beitrag zur Stabilität im Mittelmeerraum. Es war die Bundesrepublik Deutschland, die dafür sorgte, dass diese Mittelmeerpolitik Israel nicht aus-, sondern einschließt.

Die europäische Verantwortung reicht über die historische und moralische deutsche Verantwortung für das Existenzrecht und die Sicherheit Israels weit hinaus. Europa ist Nachbarregion des nahöstlichen Raumes. Stabilität dort bedeutet auch Stabilität für Europa. Die sich daraus ergebende Verantwortung muss Europa wahrnehmen. Ganz gleich, wie man in der Vergangenheit Arafats Rolle eingeschätzt hat, eines ist unabdingbar: Seine Nachfolger werden daran gemessen werden, ob sie sich aufrichtig und in Einklang mit den internationalen Vorschlägen um die Schaffung eines unabhängigen Palästinenserstaates bemühen.

Der Weg dorthin kann ihnen von allen Beteiligten erleichtert werden. Der Vorwurf, Arafat habe seine Nachfolge nicht geregelt, kann leicht erhoben, aber schwer begründet werden. Immerhin sind Wahlen für den 9. Januar 2005 vorgesehen. Die Positionen, die das Palästina Arafats hinterließ, funktionieren. Wie der Weg weitergeht, entscheidet sich nicht nur in Ramallah. Die Reaktion der Außenwelt wird von entscheidender Bedeutung sein.

Der Autor war von 1974 bis 1992 Bundesaußenminister.

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