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Occupy-Bewegung: Im Aufruhrgebiet

Die deutschen Wutbürger appellieren an den Eigennutz - und riskieren die Zukunft Europas.

Von Caroline Fetscher

Auch westliche Bürger, nicht nur Araber, zetteln derzeit Aufstände an. In Amerika fordern sie mehr Kontrolle der gierigen Konzerne und weniger krasse Ungleichheit zwischen Wohlhabenden und Habenichtsen. Postmoderne Klassenkämpfer, die mit dem Schlachtruf „Occupy Wall Street“ seit Mitte September Manhattans Zuccotti Park besetzt halten, haben unter anderem eine alte Wunderwaffe entdeckt. So halten sie den Finanzakrobaten auf einem riesigen Plakat die Präambel der US-Verfassung vor Augen: „We the People of the United States“, beginnt dieser atemberaubend erhabene, politische Text.

Wir errichten diese Verfassung, heißt es da, mit dem Ziel, die Einheit des Landes zu fördern, Gerechtigkeit, Wohlstand und Freiheit für alle Bürger zu erlangen. Alte und junge Demonstranten, die von sich sagen: „Wir sind die 99 Prozent!“, hocken sich vor die gigantischen Lettern und signieren ihre Verfassung mit Kulis und Filzstiften. Sie sehen dabei sehr klein aus, die Schrift sehr groß. Das Bild birgt Pathos. Es steckt an.

Doch wie? In Deutschland setzt das „Aktionsbündnis direkte Demokratie“ auf diesen Effekt, wenn es dazu aufruft, auch hier die Zentren der Macht zu konfrontieren. Von den Bürgern, die auf der anderen Seite des Atlantiks auf die Verfassung pochen, übernimmt das Bündnis den Sound – „Occupy Reichstag! Occupy Karlsruhe! Occupy EZB!“ –, setzt sich aber deutlich ab von denen, die dort drüben nur Reformen fordern. Man wolle mehr, erklären die Initiatoren, die am heutigen Samstag zur Demonstration vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main trommeln.

Es gehe um die Entmachtung eines „Politikerkartells“, das mit der Großfinanz im Bunde die Ersparnisse der kleinen Leute in den „Euro-Rettungswahnsinn“ schütte. Gegen „Schuldversklavung“ und „Entrechtung“ der Bürger trete man ein, dagegen, das „hart erarbeitete Geld“ der Bürger zugunsten „bankrotter Staaten“ an eine „EU-Diktatur“ zu „verpfänden“. So, wörtlich, das Manifest. Es könnte passagenweise aus der Feder des Euro-Rebellen Peter Gauweiler von der CSU stammen.

Von den demonstrierenden Notbürgern in den USA, die häufig ohne Krankenversicherung oder Arbeitslosengeld ihre Existenz fristen oder für ein paar gemietete Quadratmeter in New York oder Chicago den Großteil ihres Einkommens ausgeben müssen, sind die deutschen Wutbürger nicht nur einen Ozean weit entfernt. Sie sitzen auch auf einem politisch miserabel konstruierten Dampfer, ach was, in einem lecken Kahn.

Amerikas Arme sind stolz auf die Verfassung und Einheit ihres Landes, auf die United States of America. Dagegen versucht eine Bewegung wie die der Direkten Demokraten die großartige Chance für die United States of Europe, von der nun endlich quer durch die Parteien ernsthaft die Rede ist, zu desavouieren, sie mit provinziellen Appellen an den Eigennutz zu torpedieren. Das wäre fast komisch, gäbe es nicht das Risiko, dass gerade solche Ressentiments allerhand Echo finden. Wer diesen Kapitalkritikern da noch alles in den Kahn klettert, darüber werden sie sich eventuell wundern.

Gleichwohl wäre für vernunftgeleitete Kritik am gegenwärtigen Kapitalismus so viel Anlass. Stärkere Regulierung spekulativer Märkte zu verlangen, höheren Schutz von Verbrauchern auf den Finanzmärkten, mehr Kontrolle und Transparenz der Märkte, das alles ergibt Sinn. Allerdings nur kombiniert mit der politischen Grundüberzeugung, die uns seit 1945 Frieden beschert: Mehr Europa.

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