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Meinung: Phantomschmerzen

Die SPD streitet über Reformen – und meint damit die an der Parteispitze

Da hat so lange ein Wort das andere gegeben, bis niemand mehr wusste, wer was will, und Franz Müntefering sein neues Recht, das Recht des klärenden Wortes wahrnehmen konnte: Praxisgebühr? Bleibt. Belastung der Betriebsrenten? Bleibt.

Über ein „Gap“ klagt der Bundeskanzler gern, eine Kluft zwischen allgemeiner Reformbereitschaft und konkreter Ablehnung jeder Reform, sofern sie einen selbst betrifft. Weil das so ist, befindet sich die SPD im Umfrage-Tief, weil wiederum das so ist, hat Schröder auf den SPD-Vorsitz verzichtet. Danach ist eine interessante Gap-Variante entstanden: In einem schwarzen Loch verschwindet alles, was konkret ist – welche Reform wie wirkt, welche noch nötig ist oder zurückgedreht werden sollte – während die Vermutungen über den allgemeinen Kurs ins Kraut schießen. Trotz unerbittlicher Reformschwüre des neuen Männerduos.

Man kann das als die Anfangsverschlechterung verstehen, mit der Krankheiten auf neue Behandlungsmethoden reagieren, oder als Anfang vom Ende. Fest steht: Mit der jeweiligen Sache haben die Diskussionen über Praxisgebühr oder Rentenbesteuerung ziemlich wenig, mit dem politischen Erdbeben des Führungswechsels an der SPD-Spitze aber sehr viel zu tun. Von der Sache her ist es natürlich grundvernünftig, die Kumulation verschiedener Maßnahmen bei bestimmten Personengruppen zu prüfen, bevor neue Gesetze verabschiedet werden. Zum Beispiel die Kosten von Nullrunde, Pflegebeitrag plus Krankenversicherung auf Betriebsrenten für die Rentner. Von der Sache her ist es der reine Unfug, sechs Wochen nach Inkrafttreten der neuen Regelung die Praxisgebühr in Frage zu stellen. Der 10-Euro-Schein zielt auf das Verhalten – auf weniger Arztbesuche. Ob diese Absicht verfehlt wird oder nicht, kann frühestens nach einem Quartal beurteilt werden, wahrscheinlich erst nach einem Jahr. Und abgesehen von einigen SPD-Linken, die immer dagegen waren, will es ja auch niemand gewesen sein, der den 10-Euro-Schein zur Disposition gestellt hat. Jedenfalls nicht Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, deren Sprecher gestern die Spekulationen dementiert hat – die seine Ministerin mit einem Zeitungsinterview ausgelöst hat.

Ulla Schmidt hat ja auch nicht über die Sache gesprochen. Sondern über ihre Stellung im Kabinett. Sie hat das zweite lupenreine Beispiel dafür geliefert, wie man in der Aufregungsdemokratie diszipliniert undiszipliniert sein kann. Das erste hat ein Wochenende zuvor der saarländische SPD-Chef Heiko Maas geliefert, der dem neuen Duo eine kleine, ganz und gar unerwünschte Diskussion über den SPD-Kanzlerkandidaten 2006 geliefert hat. Maas hat formal korrekt nur gesagt, dass die SPD darüber erst noch beschließen muss. Das reicht, damit am Sonntagabend bei „Christiansen“ mitgeteilt werden kann, dass es nun in der SPD eine Kanzlerkandidatendiskussion gebe. Auch Ulla Schmidt hat nichts anderes als die Rechtslage der Gesundheitsreform erläutert, die das Hausarztmodell als Option vorsieht, mit der die Praxisgebühr vermieden werden kann. Man kann gut verstehen, wenn sie bei dieser Gelegenheit darauf wettet, dass die Praxisgebühr keine fünf Jahre alt wird. Denn auf Schmidt hat sich die ganze Empörung über diese Maßnahme entladen, obwohl sie gegen ihre Wünsche von der CDU durchgesetzt worden ist, übrigens mit Hilfe von Gerhard Schröder.

Und im Fall von Wolfgang Clement geht es am allerwenigsten um die Ausbildungsplatzabgabe. Dass Müntefering, die Fraktion und die SPD sie wollen und der Wirtschaftsminister nicht, steht seit Wochen fest. Neu ist hingegen, dass mit Münteferings Aufwertung Clements Kronprinzenrolle beendet ist.

Alle reden über Reformen und meinen ihren Schmerz über eine jäh veränderte politische Konstellation. So wird es vermutlich bis zur vierten Märzwoche weitergehen. Dann, wenn Müntefering zum SPD-Chef gewählt ist und Schröder seine Regierungserklärung abgibt, sind wieder konkrete Entscheidungen gemeint, wenn über den Reformkurs geredet wird.

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