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Meinung: Politik braucht kurze Beine

Der Lügenausschuss endet und macht deutlich, was alle wussten: Der Volksvertreter spielt gern Versteck

Von Robert Birnbaum

Wenn Klein Erna sich ausmalt, wie es so zugeht in der großen Politik, dann bastelt sie sich gern mal eine naive Verschwörungstheorie. Wenn die Opposition sich auf das Niveau von Klein Erna herabbegibt, bastelt sie sich einen Untersuchungsausschuss. Das Ergebnis war absehbar. Es wird sich durch die Vernehmung des letzten Zeugen – Schröder, Gerhard, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland – an diesem Donnerstag um keinen Deut verändern.

Denn es stand von vornherein fest, was der „Lügenausschuss“ herausfinden und vor allem, was er nicht herausfinden würde. Nämlich dies: Nein, es hat keine Geheimabsprache der Regierenden gegeben, dem Volk im Wahljahr die Wahrheit über die Staatsfinanzen zu verschweigen. Ja, die Regierung hat dem Volk nicht die ganze Wahrheit gesagt, sondern nur deren rosaroten Teil. Ein Beispiel: Alle Fachabteilungen des Finanzministeriums haben es spätestens kurz vor der Wahl für wahrscheinlich gehalten, dass Hans Eichels Haushalt auf Sand gebaut war. Der Minister und sein Staatssekretär haben bis zum endgültigen Beweis des Gegenteils – nach der Wahl – die Annahme hochgehalten, dass ein kleines Wachstum den Sand doch noch zu Beton verfestigt. Dass die Herren daran im tiefen Ernst geglaubt haben, mögen sie erzählen, wem sie wollen. Aber haben sie gelogen?

Das Grundproblem des Lügenausschusses besteht in dem, was die Wissenschaft als kategorialen Irrtum kennt: Er versucht die Klein-Erna-Moral auf ein Feld anzuwenden, in dem ganz andere Regeln gelten. Im Privatleben ist einer ein Lügner, der nur die für ihn selbst günstige Hälfte der Wahrheit sagt. Vor Gericht ist das gleiche Verhalten das verbriefte Recht des Angeklagten. Die Politik liegt irgendwo dazwischen: Komplette Unwahrheit wird bestraft, aber die komplette Wahrheit erwartet niemand. Wäre es anders, könnten sich die Zeitungen darauf beschränken, amtliche Statements abzudrucken. Sie tun es nicht, mit gutem Grund, sondern fragen nach Hintergründen, Taktiken, kurz nach dem, was hinter all den Worten steckt. Jeder einzelne Abgeordnete im Lügenausschuss dürfte vor der Kamera schon Sätze gesagt haben, die er hinterher im vertrauten Zwiegespräch augenzwinkernd als taktisch notwendigen höheren Blödsinn bezeichnet. Politik ist oft ein Versteckspiel.

Aber sie ist, wie jedes Spiel, kein regel- und straffreier Raum. Wer allzu oft bei nur allzu halben Wahrheiten ertappt wird, verliert an Glaubwürdigkeit. Über kurz mag das durchgehen, über lang kostet es ihn fast immer die Karriere. Die Jury sind die Wähler, die Presse, die Parteifreunde, die irgendwann den Herrn Minister oder die Frau Abgeordnete nicht mehr tragbar finden. Für die sehr schweren Fälle gibt es das Selbstreinigungsinstrument des parlamentarischen Untersuchungsausschusses.

Darin liegt indessen der zweite kategoriale Irrtum des Lügenausschusses. Sein Fall ist kein sehr schwerer. „In Wahljahren wirst du belogen“, hat der untaugliche Kronzeuge Oswald Metzger festgestellt. So ist es. Schön ist das nicht. Aber hinter dem Lügenausschuss steckt die stillschweigende Behauptung, die Opposition wolle diese Regel ändern. Wenn sie das wirklich will, möge sie gerne den ersten Stein werfen. Aber dies zur Warnung: Wir sammeln hinterher jede einzelne Scherbe sorgsam auf.

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