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Meinung: Polnisches Roulette

Premier Miller sieht im Referendum über den EU-Beitritt eine persönliche Chance – und riskiert damit die Zukunft seines Landes

Immer schneller dreht sich in Polen das Ministerkarussell. Insgesamt zehn Mitglieder des Kabinetts von Premier Leszek Miller haben in den vergangenen neun Monaten ihren Posten geräumt. In der vergangenen Woche wurden bereits der dritte Gesundheits- und Schatzminister seiner Amtszeit vereidigt, und wieder einmal hat Miller seinen ermatteten Landsleuten einen Neuanfang versprochen. Doch an die hoffnungsfrohen Botschaften des Sozialdemokraten glauben immer weniger Polen.

Bereits jetzt hat Präsident Aleksander Kwasniewski die Legislaturperiode um ein Jahr verkürzt. Zweifelhaft scheint indes, ob das ausgelaugte Minderheitskabinett die Zeit bis zum Wahltermin im nächsten Jahr überlebt. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, eine Steuerreform und die Sanierung des Haushaltsdefizits hatte „Macher" Miller nach dem Wahlsieg seines Linksbündnisses SLD/UP im September 2001 versprochen. Verwirklicht wurde von den Ankündigungen bisher fast nichts. Stattdessen hat der Premier seine Wähler vor allem durch merkwürdige Personalentscheidungen, Konzept- und Tatenlosigkeit enttäuscht.

Weil sich die bürgerlichen Erben der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc einer Zusammenarbeit mit den als „postkommunistisch" gebrandmarkten Sozialdemokraten noch immer verweigern, hatte Miller aus Mangel an Alternativen mit den eher europaskeptischen Bauernlobbyisten der PSL eine Regierung gebildet. Wie befürchtet, knirschte es in diesem Bündnis von Anfang an ziemlich kräftig. Die populistische Konkurrenz der stramm EU-feindlichen Bauernpartei Samoobrona im Nacken, gebärdete sich die PSL als regierungsinterne Opposition. Gelähmt von Streitereien und anhaltender Wirtschaftsmisere schleppte sich das Regierungsbündnis eher schlecht als recht über die Runden. Ausgerechnet 100 Tage vor der Volksabstimmung über den anvisierten EU-Beitritt trennte sich Miller schließlich entnervt von dem lästigen Partner.

Millers Hoffnung auf einen Befreiungsschlag durch den Rauswurf der PSL hat sich jedoch nicht erfüllt. Ohne feste Mehrheit im Sejm kann sich die durch den so genannten „Rywingate"-Korruptionsskandal paralysierte Minderheitsregierung nur weiter über die Runden wursteln. Mehrheitsfähige Alternativen dürften sich auf Grund der erstarkten EU-skeptischen Protestparteien selbst bei Neuwahlen nicht eröffnen. Wechselten sich bisher im Nachwende-Polen die Erben der Solidarnosc und die Linken an der Regierung munter ab, scheint dieses Szenario nun verbaut.

Weniger der Neuschnee als der trostlose Zustand ihres Landes drückt den Polen in diesen kühlen April-Tagen auf das Gemüt. Auf knapp 20 Prozent ist die offizielle Arbeitslosenquote geklettert, die Umfragewerte der Regierung hingegen sind in den Keller gepurzelt.

Die Nachrichten über verzweifelte Streiks von Wende-Verlierern werden von immer neuen Enthüllungen im Rywingate-Untersuchungsausschuss garniert. Die Behauptung des Filmproduzenten Lew Rywin, dass Miller ihn mit einer zwielichtigen Schmiergeldofferte zu dem Verlagshaus Agora gesandt habe, fand bisher zwar keine Bestätigung. Doch die Tatsache, dass Miller – genauso wie Kwasniewski – monatelang auf die Einschaltung der Justiz zur Aufhellung des ihm bekannten Skandals verzichtete, hat die Politikverdrossenheit noch vergrößert.

Mit einem Sieg beim Referendum über den EU-Beitritt im Juni hofft Miller nun auf einen Popularitätsschub. Präsident Kwasniewski würde ihn zwar nur allzu gerne durch einen populäreren Parteigenossen ersetzen, aber dennoch kann sich Miller seiner Unterstützung sicher sein. Es könnte also sein, dass der Premier noch einmal eine letzte Chance bekommt. Doch für die EU-Befürworter ist das ein gefährliches Spiel. Denn das Referendum über den Beitritt zur Europäischen Union könnte auch leicht zu einem Plebiszit über Miller werden. Dann aber scheiterte womögliche mehr als nur ein Premier.

Thomas Roser

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