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POSITIONEN: Der moralische Weltpolizist

Es ist wichtig, dass die USA den Genozid an den Armeniern benennen Von Irshad Manji

Aktuell auf der Washingtoner Bühne: ein politisches Drama zur Frage, ob die Türkei für die Massendeportation und Tötung der Armenier, die 1915 begannen und allgemein als Genozid bezeichnet werden, gebrandmarkt werden soll.

Diese symbolische Abstimmung der amerikanischen Gesetzgeber hat mehr als nur symbolischen Ärger im Weißen Haus verursacht. Aus Sicht der Bush-Regierung wäre jetzt ein denkbar falscher Zeitpunkt, sich mit der Türkei anzulegen, die eine Grenze mit dem Irak hat und den USA Schlüsselrouten im sogenannten Krieg gegen den Terror offen hält.

Der Zeitpunkt dieser Resolution sollte einem zu denken geben – vor allem wegen derjenigen, die sie eingebracht haben: der Demokraten. Einer Partei, aus deren Sicht ein Erfolg im Irak wichtiger für die USA ist als ein Verbrechen in der Türkei von gestern. Ein Komiker traf den Nagel auf den Kopf: „Deshalb haben die Wähler den Demokraten die Mehrheit im Kongress gegeben: damit sie dem Ottomanischem Reich ordentlich eins auf die Finger geben.“

Gleichwohl gibt es einen wichtigen Grund, warum man sich mit dem Genozid an den Armeniern beschäftigen sollte, und der hat direkt mit der amerikanischen Implosion im Irak zu tun: Die Demokratie wurde dadurch neu definiert, nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in den Vereinigten Staaten. Heute müssen amerikanischen Politiker in Betracht ziehen, was „Wähler“ denken, die ganz woanders leben. Die Führerin der Demokraten, Nancy Pelosi, beschrieb das Phänomen so: „Einiges von dem, was unseren Truppen im Weg steht, hat mit Werten zu tun – Abu Ghraib, Guantanamo, Folter. Unsere Soldaten profitieren davon, wenn wir deutlich machen, was für ein Land wir sind.“

Das ist ein kluges Argument dafür, dass die USA sich für die Menschenrechte stark machen müssen. Amerika ist weiterhin das einzige Land in der Welt mit einer universellen Verfassung. Politische Entscheidungen in den USA haben oft dramatische Wirkungen in anderen Ecken dieser Welt, ob es um Einwanderung geht oder den Umgang mit Diktatoren.

Irene Khan, die Generalsekretärin von Amnesty International, berichtet, wie sie vor einiger Zeit den russischen Premier Wladimir Putin traf. Als sie ihn auf Machtmissbrauch ansprach, sagte er nur zwei Worte: „Guantanamo Bay“. Khans Schlussfolgerung: „Amerika muss die Menschenrechte ganz oben auf seiner Agenda behalten, nicht nur wegen seiner eigenen moralischen Haltung, sondern auch weil, wenn die USA das nicht tun, andere das als Vorwand nehmen, sie nicht ernst zu nehmen.“ Andere moderne, multikulturelle Länder wie Indien, Großbritannien oder China haben diese Wirkung nicht. Kein Wunder, dass viele in der Welt sich darüber beschweren, dass nur Amerikaner den Präsidenten der Vereinigten Staaten wählen dürfen. Ich höre das immer wieder von jungen Muslimen in Europa. Und nicht nur sie fühlen sich entmündigt: In einer bekannten Zeitung in meiner Heimat Kanada schrieb ein Kolumnist, wäre es nach dem Rest der Welt gegangen, wäre Al Gore Präsident geworden.

Diesen universellen Wahlkreis haben die Demokraten mit ihrer Armenienresolution vor Augen. Natürlich halten mich jetzt alle für naiv. Linke Kritiker werden betonen, dass die Verurteilung nur ein Vorwand ist, um von den armenischen Genozid-Überlebenden, die wie jene des Holocaust aussterben, Wahlkampfspenden einzutreiben. Kritiker auf der Rechten behaupten, dass es nur darum geht, den „Krieg gegen den Terror“ zu schwächen, indem man einen wichtigen Alliierten vorführt. In der Tat: Viele Demokraten ziehen ihre Unterstützung für die Resolution bereits zurück, weil die Türken mit Gegenreaktionen drohen.

Die Frage, die sich die Amerikaner stellen müssen, lautet: Seit wann ist es falsch, sich gegen einen Genozid zu positionieren? Sollte Verärgerung bei anderen ein Grund sein, dass man aufhört, sich zu erinnern?

Die Frage, die sich die Türken stellen müssen, lautet: Warum sollte unsere Geschichte außerhalb des amerikanischen Blickwinkels stattfinden? Die Türken sind laut Umfragen das antiamerikanischste Land in der gesamten muslimischen Welt. Wer gibt euch das Recht zu urteilen, euch einem Urteil aber zu entziehen?

Die Autorin ist Senior Fellow der European Foundation for Democracy. Zuletzt veröffentlichte sie „Der Aufbruch. Plädoyer für einen aufgeklärten Islam“. Übersetzung: Moritz Schuller.

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