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POSITIONEN: Hitlers Kinder

Die Deutschen führen eine seltsame Debatte um ihren Nachwuchs. Die Lage wird nicht nur demografisch als bedrohlich empfunden. Warum erst jetzt und warum diese aufgeregte Kritik?

Kaum hatten sich Bund und Länder endlich auf die Finanzierung des Krippenausbaus geeinigt, begann in Deutschland eine heftige Debatte. Es war eine merkwürdige Debatte, wenn man sie mit den Augen eines Skandinaviers verfolgte, der abwechselnd in Berlin und Stockholm lebt. Gegen die Pläne der Familienministerin formierte sich plötzlich eine Allianz aus Unionspolitikern und Linken. Stolze christliche Familienväter wie Herr Seehofer und Herr Söder schäumten vor Wut, und Herr Lafontaine samt Ehefrau vereinte sich in Gottes Namen mit der CSU und mit dem „Anti-Gebärmaschine-Bischof“ Mixa. In Skandinavien schüttelten sie staunend die Köpfe, wenn wir ihnen davon erzählten.

Als sozialer Wohlfahrtstaat steht Deutschland nämlich dem schwedischen in kaum etwas nach. Meiner Erfahrung nach ist etwa das deutsche Gesundheitssystem inzwischen sowohl effektiver als auch humaner als das schwedische. Das politische Klima beider EU-Länder ist auffallend ähnlich: Man debattiert dieselben Fragen – Steuersatz, Rentenalter und die Konsequenzen, die aus der Globalisierung zu ziehen sind. Man jammert über dieselben Themen – Klimawandel, schlechte Schulen, mangelnde Integration der vielen Immigranten und maßlos geldgierige Wirtschaftsbosse. Deutschland und Schweden sind politisch fast wie Zwillinge – nur dass wir in der Kinderfrage das neue Zeitalter erreicht haben, während Deutschland im europäischen Vergleich Entwicklungsland in Sachen Kinder ist.

Kinder sind in der Bundesrepublik nicht besonders erwünscht, ja, sie werden gar nicht erst geboren – niedrigste Geburtenrate Europas – trotz leicht steigender Tendenz (9 Monate nach der Fußball-WM!). Die Medien berichten von Kindern in Armut, Kindern als Opfer von Gewalt, Kindern, die nach der Schule keinen ganzen Satz schreiben können. Kinder die fehlen, um später die Renten der Alten zu zahlen. Die Lage wird nicht nur demografisch als bedrohlich empfunden. Deshalb hat die Regierung das Notwendige veranlasst. Warum erst jetzt und warum diese aufgeregte Kritik?

Man muss die Antwort wohl in Deutschlands grausamer Geschichte des 20. Jahrhunderts suchen. Während der Hitlerjahre wurden Mütter und Kinder für die Nazi-Ideologie instrumentalisiert, auch in der DDR nutzte das Regime Kindergärten, Horte, Schulen und Pionierorganisationen für den Sozialismus. Diese Erfahrungen machten viele Westdeutsche zu Gegner von Kitas und Ganztagsschulen an sich. Der Staat, fanden sie, solle seine Finger von den Familien und Kindern nehmen. Hängen geblieben ist aber auch ein Teil des im Krieg propagierten Mutterkults. Das heute irreale Idealbild der Mutter ist noch immer die bodenständige Hausfrau, die mit dem Mittagessen auf die Kinder wartet.

1946 wurde in Schweden das obligatorische warme Mittagessen für alle Schulkinder per Gesetz eingeführt, als einer von vielen Bausteinen des schwedischen Wohlfahrtsstaats. Durch geopolitisches Glück und geschickte Außenpolitik hatte die „neutrale“ schwedische Regierung es vermieden, in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen zu werden. Eine soziale Harmonie entwickelte sich im Land. Die Schweden glaubten (und glauben noch) an „das Gute“ in allen Menschen und hatten keinen Grund, das allgemeine, auf dem europäischen Kontinent herrschende Misstrauen zwischen Menschen und deren Klassen zu teilen. Ganztagsschulen, Kindergärten, der lange Elternschaftsurlaub spiegeln Hoffnung und Glauben an die Zukunft wider. Politisch sind diese Einrichtungen unumstritten. Und : Ohne diese Infrastruktur würden auch die schwedischen Frauen weniger Kinder haben wollen.

Die Deutschen sind Weltmeister in Nationaltherapie. Mit deutscher Gründlichkeit hat man die zwölf Nazi-Jahre analysiert und öffentlich diskutiert. Meine Hoffnung ist, dass Deutschland im Laufe dieses Prozesses entdeckt, dass und wie solche Institutionen für Kinder nicht „instrumentalisierend“ wirken müssen, und dass man in der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit vielleicht sogar ein paar Kinder mit dem Bade ausgeschüttet hat. Denn im Grunde hat die Bundesrepublik alle Voraussetzungen dafür, auch in diesem Bereich ein moderner Staat zu werden.

Der Autor ist schwedischer Botschafter a. D. und Generalsekretär des Europäischen Kulturparlaments.

Karl-Erik Norrmann

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