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POSITIONEN: Turbo-Wahn

Das G-8-Abitur ist ein politisches Ränkespiel auf Kosten der Kinder

Schnell, schneller, am besten? So dachte man im vergangenen Jahrzehnt, als Deutschlands Bildungspolitiker sich hatten einreden lassen, unsere Hochschulabsolventen seien im internationalen Vergleich zu alt. Zwar hörte man immer wieder, dass deutsche Absolventen im Ausland mit Kusshand genommen würden, und deutsche Austauschschüler berichteten bei ihrer Heimkehr vom teilweise erschreckend niedrigen Unterrichtsniveau an Schulen, beispielsweise in den USA. Dennoch: Die Kultusminister der Länder verspürten Änderungszwang und beugten sich nahezu kollektiv dem Druck der Wirtschaft, zusätzlich in Panik geraten durch die miserablen Pisa-Ergebnisse. Doch obwohl die Schreib- und Rechenkünste 15-Jähriger mit dem Abiturwissen 19-Jähriger nicht das Geringste gemein hatten, strichen sie nach Gutsherrenart das dreizehnte Schuljahr.

Der Ruf nach Entschleunigung beschränkte sich aber schon damals nicht mehr nur auf Trendbewegungen wie Slow Food und Slobbies („Slower but better working people“), sondern hallte längst durch die Management-Etagen der Wirtschaft.

Eltern, Schüler und Lehrer haben natürlich schnell erkannt, dass das Turbo-Abitur eine Mogelpackung ist. Es verspricht zwar ein Jahr Zeitgewinn, aber auf Kosten von Gesundheit, Geldbeutel der Eltern und Lebensfreude der Kinder. Die Turbo-Schüler haben im Schnitt vier Wochenstunden mehr abzusitzen, sie haben wenig bis gar keine Zeit für Sport und Musik am Nachmittag, Hausaufgaben und Referate werden bis in den späten Abend erledigt, sie müssen alles beim ersten Anlauf im Unterricht kapieren oder private Nachhilfe nehmen. Folglich zeigen schon Schüler typische Stresssyndrome.

Experten raten dann meist, die Hobbys zu streichen und sich nur noch auf die Schule zu konzentrieren. So als ob das Leben draußen für die Schüler unwichtig sei.

Wichtigstes Einstellungskriterium der Firmen bleibt zu fast 90 Prozent die „Persönlichkeit“, ergab eine Umfrage des CRF Institute 2009. Und die entwickelt sich vor allem über freiwillige Interessen – und sei es ein kleiner Job wie Zeitungsaustragen am Nachmittag. Nicht jedenfalls übers Bulimie-Lernen, wie es im Zuge des Turbo-Abiturs üblich geworden ist.

Die wunden Punkte der Reform kennt jeder; nur zugeben, dass sie insgesamt ein Fehler war, will niemand. Bis auf einen: Bildungsminister Ekkehard Klug (FDP) hat in Schleswig-Holstein den Gymnasien soeben wieder freigestellt, ob sie nach acht oder neun Jahren zum Abitur führen wollen. Gegen den heftigen Widerstand von SPD, Grünen und Linken übrigens, die eine Schwächung der Gemeinschaftsschulen fürchten, an denen das Abitur nämlich weiterhin nach 13 Jahren abgelegt werden durfte. In Baden-Württemberg propagiert die SPD exakt das Modell, das sie im Norden bekämpfte: die Wahlmöglichkeit zwischen dem Abitur nach zwölf oder dreizehn Jahren.

Die Turbo-Schule ist zum politischen Spielball verkommen. Die einen befürworten sie und setzen gezielt auf Überforderung, damit bildungsbewusste Schichten den Weg in die verpönten Gemeinschafts-, Sekundar- oder Oberschulen finden, wo die Klassen kleiner, das Wochenpensum geringer, die Zeit bis zum Abitur länger ist. Ein solches Konzept fahren die roten Bildungsbehörden Berlin und Bremen. Konservative Kräfte stimmen dem zähneknirschend zu, weil sie meinen, endlich eine Elite-Einrichtung geschaffen zu haben, die den Massenzug an die Gymnasien stoppt. Die Turbo-Form betrachten sie außerdem als Bestandsschutz fürs Gymnasium generell. Oft rudern aber dieselben ursprünglichen Befürworter spätestens dann zurück, sobald ihre eigenen Kinder in der Turbo-Mühle sitzen.

Denn die Frage ist ja nicht, ob man das Turbo-Abitur schaffen kann, sondern zu welchem Preis man es schafft. Auch begabte Kinder haben einen Anspruch auf Kindheit, auf ein Hobby neben der Schule, auf Zeit zum Entspannen, Lesen oder Gammeln. Turbo-Karrieren sind vielen suspekt geworden. Das dürfte sich – gerade in Berlin – herumgesprochen haben.

Die Autorin ist Journalistin

und lebt in Bremen.

Ihr Buch über die „Generation G8“ ist im Beltz-Verlag erschienen.

Birgitta vom Lehn

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