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Meinung: Rot ist auch nur eine Farbe

China wird zu einer Entwicklungsdiktatur ohne ideologischen Überbau

Der Große Vorsitzende wird seinen Wachsohren nicht getraut haben. Nicht weit von Mao Zedongs letzter Ruhestätte, einem prunkvollen Mausoleum auf dem Platz des Himmlischen Friedens, bereitet Chinas Volkskongress in diesen Tagen einen Zusatz für die Verfassung vor. Erstmals soll der Besitz von Privateigentum verfassungsrechtlich geschützt werden. Als Mao vor einem halben Jahrhundert die Volksrepublik ausrief, galt Privateigentum noch als gesellschaftliches Übel. Heute umarmt China seine Kapitalisten.

Die Verfassungsänderung hat vor allem symbolische Bedeutung. Für Millionen von Chinesen, die jeden Morgen im eigenen Auto zur Arbeit fahren und ihre Eigentumswohnung abbezahlen, wird sich nichts ändern. Private Unternehmer und Firmen, die rund die Hälfte von Chinas Wirtschaft ausmachen, waren bisher schon durch Gesetze geschützt. Und doch ist der Verfassungszusatz ein weiterer Hinweis darauf, wie China in Zukunft aussehen wird. Staat und Gesellschaft werden weiter entideologisiert, der Aufbau der Wirtschaft vorangetrieben. China wandelt sich zu einer Entwicklungsdiktatur.

Der Weg dorthin zeichnet sich schon länger ab. 1997 legten Pekings Führer auf dem Parteitag die Weichen für die Privatisierung der Staatswirtschaft. Tausende Staatsunternehmen wurden seitdem in Aktienunternehmen umgewandelt, verkauft oder einfach aufgelöst. Chinas Privatunternehmer, einst als Kapitalisten und Klassenfeinde geschmäht, dürfen seit vergangenem Jahr Mitglieder in der regierenden Kommunistischen Partei werden. Ob Pekings Führer das Ganze nun sozialistische Marktwirtschaft nennen oder „Sozialismus mit chinesischer Charakteristik“ – den meisten Chinesen sind die Widersprüche im System egal, solange ihr Wohlstand wächst.

Doch wie das System ist auch Chinas Entwicklung zweigeteilt. So rasant sich die Wirtschaft in den vergangenen zwei Jahrzehnten entwickelt hat, so starr ist das politische System geblieben. Rituale und geheime Machtzirkel bestimmen die Politik. Auf Wandtafeln und Schriftbannern wird ein Sozialismus gepriesen, den es in Wirklichkeit nicht mehr gibt. Regierungskader, Studenten und Staatsangestellte müssen kommunistische Propagandatexte büffeln, die keinen Sinn mehr machen. Auf der anderen Seite gibt es eine zunehmend pragmatische Führung, die China nach Rechtsgrundsätzen regieren will und das Land in die Weltgemeinschaft integriert. Deutlich wurde diese Politik im Regierungsbericht von Ministerpräsident Wen Jiabao. In Abkehr von der reinen Wachstumspolitik seiner Vorgänger kündigte er einen ausgewogeneren Kurs an. Statt wie bisher nur die Städte zu entwickeln, will Wen den Lebensstandard der 800 Millionen Bauern verbessern. Dabei ist Wen Pragmatiker. Wenn er den verarmten Bauern hilft, dann tut er das nicht aus Ideologie, sondern um die soziale Stabilität zu bewahren.

In seiner Regierungsrede verzichtete Wen auch auf scharfe Worte gegen Taiwan. Nicht, weil er einen Krieg gegen die Insel grundsätzlich ablehnt, sondern weil er weiß, dass Drohungen aus Peking das Misstrauen auf Taiwan zurzeit nur verstärken würde.

Ziel der neuen Pekinger Regierung ist es, ein sanfteres Bild im Ausland zu vermitteln. Seit Wen Jiabaos Amtsantritt vor einem Jahr gab es keine so genannte Hart-Durchgreifen-Kampagne, mit der die Polizei in der Vergangenheit willkürlich gegen Verdächtige und Kriminelle vorging. Einem internen Erlass zufolge sollen die Provinzen die Zahl der Hinrichtungen reduzieren. Auf dem Volkskongress wurde außerdem ein Verfassungszusatz vorgestellt, der erstmals den Schutz der Menschenrechte festschreibt. Wirklich verbessern wird sich die Menschenrechtslage dadurch nicht. Der Zusatz in der Verfassung ist so allgemein formuliert, dass sich kein Chinese darauf berufen kann. Ohne eine unabhängige Justiz werden Todesurteile auch weiter willkürlich verhängt werden.

Dennoch ist Pekings Pragmatismus ein Zeichen für die Veränderungen in China. Mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung wird der Ruf nach Gesetzen lauter. Quälend langsam noch ist diese Entwicklung zu einem Rechtsstaat. Doch für die KP wird es immer schwieriger, die Widersprüche im System zu übertünchen. Jahr für Jahr schicken mehr Menschen Petitionen an den Volkskongress, ohne Rücksicht auf politische Tabus. Ein durch Sars bekannt gewordener Arzt verlangte in einem offenen Brief eine Neubewertung des Militärmassakers von 1989. Aber für das Erbe Maos gibt es jetzt vielleicht eine Lösung: Eine Gruppe Pekinger Intellektueller schlägt vor, den Großen Vorsitzenden endlich zu beerdigen.

Harald Maass

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