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Russland: Kleine Demos unter Freunden

Die Russen, weiß ein Spruch, spannen langsam an, fahren aber umso schneller. Derzeit fahren sie sehr schnell.

Die Russen, weiß ein Spruch, spannen langsam an, fahren aber umso schneller. Derzeit fahren sie sehr schnell. An den Protesten am Weihnachtswochenende in Moskau nahmen rund 100 000 Demonstranten teil. Zur kritischen Masse für eine Revolution wie in Georgien und der Ukraine – Anlass waren auch dort Wahlfälschungen – reicht das nicht. Putin, der bei den Präsidentenwahlen im März erneut kandidiert, hat so Unrecht nicht, wenn er für sich in Anspruch nimmt, die Mehrheit der Russen würde ihn nach wie vor unterstützen. Er gilt als Synonym für die Stabilität, die auch die soziale Mitte schätzt. Die derzeitigen Massenproteste sind daher ein völlig neues Phänomen, denn die Akteure sind nicht Arme und Randständige, sondern ausgerechnet eben jene Mittelschicht.

Kritisch ist es für die Machthaber deshalb geworden, weil Stabilität in Stagnation umgeschlagen ist. Medwedew hatte davor gewarnt, sich mangels Souveränität aber nur zu kosmetischen Korrekturen aufgerafft. Zu Lockerungen zwangen Kreml und Regierung erst die neuen Medien, deren Macht Putin, der anders als Medwedew weder twittert noch bloggt, völlig unterschätzt hatte.

Vor allem über virtuelle soziale Netzwerke schafften die Protestierenden den Quantensprung zu einer Bewegung, die das Regime ernst nehmen muss. An denselben neuen Medien könnte jedoch der zweite Quantensprung scheitern: Der von der Minderheit zur Mehrheit. Denn Facebook und dessen russische Avatare sorgen dafür, dass sich stets „Freunde“, Gleiche, treffen: die Moskauer Mittelschicht die Petersburger. Die von Alltagsproblemen gebeutelten Menschen auf dem flachen Land bleiben außen vor.

Russlands Liberale haben sich stets schwer damit getan, Forderungen nach Demokratie mit sozialen Anliegen zu verbinden, und wurden dafür vom Wähler mehrfach bestraft. Die neue Protestbewegung ist auf dem besten Weg, den gleichen Fehler zu machen und sich in Flügelkämpfen zu verschleißen, statt ein mehrheitsfähiges Programm mit demokratischen und sozialen Forderungen vorzulegen. Sie vergibt damit eine Chance, wie sie jede Generation nur einmal bekommt.

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