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Sarrazin und das Tabu: Die Entweder-Oder-Falle

Sarrazins Äußerungen sind dünkelhaft, ja a-sozial. Nur mit Ausgrenzung kommen wir nicht weiter.

Wer fürchtet das Tabu? Niemand, der als Zuspitzer, Querdenker, Anti-Gutmensch in der Öffentlichkeit punkten will. Im Gegenteil. Er sucht es selbst da, wo nur offene Scheunentore einzutreten sind. Und findet es dort verlässlich. Denn stets sind die Gutmenschen, Sozialromantiker, Verbandsvertreter zur Stelle, die Volksverhetzung und Rassismus rufen – und damit das Tabu suggestiv errichten, von dem der öffentliche Quotenjäger lebt.

Entweder – oder, für oder gegen Thilo Sarrazin? Nach diesem Muster hat sich eine große Woge um dessen jüngste Äußerungen aufgebaut. Die sind beklemmend dünkelhaft, ja, a-sozial. Denn Sarrazin stellt seine türkisch-arabisch-deutschen Unterschichten in ein Abseits, in dem nicht stattfindet, was Politiker wie Banker doch grundsätzlich wollen: dass nämlich Menschen die Gesellschaft bewegen und die Gesellschaft Menschen verändern kann. Kein Land wird dümmer, wenn 40 Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden. Jedenfalls nicht zwangsläufig. Allerdings schon, wenn Gesellschaft und Menschen darin versagen, in diesen Kindern ihre Hoffnung und Zukunft zu sehen.

Dass Deutschland über Jahrzehnte dazu nicht in der Lage war, bildet den empfindlich-nervösen Hintergrund dieser Debatte. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir alle eingestehen, in der einen oder anderen Weise dazu beigetragen zu haben, dass Sarrazins Suada Stimmungen aufnimmt, die seit Jahr und Tag ein untergründiges Dasein jenseits der medialen Öffentlichkeit führen. Denn die kommt aus dem Milieu der Bessergestellten und kann verdrängen, was andere Bürger, zumal die Heranwachsenden, hautnah erleben. Die aufgeklärten Mittelschichten haben lange nicht wahrhaben wollen, dass junge Frauen nur hinter Gardinen versteckt zusehen konnten, wenn unten auf der Straße das Multikulti-Stadtteilfest gefeiert wurde. Transferleistungen waren für Bund, Länder, Sozialpartner und Öffentlichkeit bequem, bis sie die Segnungen des Sozialstaats insgesamt zu teuer gemacht haben. Die größte Volkspartei hat die Tatsache der Einwanderung noch geleugnet, als die ersten Enkelkinder der Gastarbeiter Abitur machten oder eingeschult wurden, ohne Deutsch zu sprechen.

Ob es um Migration oder soziale Exklusion geht: Wir haben den Tatsachen zu lange nicht ins Gesicht gesehen. Und darum gibt es immer wieder ein unstillbares Bedürfnis, im Konfliktfall auf der richtigen Seite zu stehen. Das Ergebnis ist aber nur, dass wieder die alten Schützengräben ausgehoben werden. Die schützen prima vor den Geschossen von der anderen Seite – während die verschuldet oder unverschuldet Ausgeschlossenen getroffen werden, von beiden Seiten.

Es gibt kein Tabu. Ja, ein Teil der türkischen und arabischen Zuwanderer verweigert sich der Integration. Ja, der Bildungserfolg verschiedener Migrantengruppen ist so unterschiedlich, dass die Frage nach den kulturellen Wurzeln dieser Unterschiede legitim ist. Ja, mancher Hartz-IV-Empfänger hält Glotze und Prügel für Erziehung.

Aber pauschale Befunde bleiben Ressentiments. Sie sind gedankenfaul und herzensträge wie die billige Gegenbeschwörung von Rassismus und Volksverhetzung. Und richtig dumm ist das öffentliche Mantra, man müsse doch aussprechen können, was die Leute wirklich denken.

Nur zu! Für Politiker, Banker und öffentliche Akteure muss dabei gelten: mit Verantwortung, Augenmaß und Leidenschaft. Verantwortung, weil Migration zu den Grundtatsachen unseres Lebens gehört, wie die erfolgreiche Integration eine Grundbedingung unseres künftigen Erfolgs ist. Mit Leidenschaft, weil es um Kinder und Jugendliche geht, die hier geboren und deshalb unsere Kinder sind. Gewaltfreie Erziehung, Beherrschung der Landessprache, Schulpflicht, freie Partnerwahl sind Rechte, für die eine Gesellschaft im Zweifel auch gegen Eltern einstehen muss, die sie ihren Kindern verweigern. Mit Augenmaß, weil es immer richtig ist, die türkischen Mütter für den Schulerfolg ihrer Kinder zu gewinnen, und manchmal richtig sein kann, die Schulpflicht mithilfe der Polizei durchzusetzen. Und eben nicht: entweder – oder.

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