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Meinung: Schleichende Selbstvergiftung

Von Christoph von Marschall Das nennt Israels Regierungschef Ariel Scharon „einen unserer größten Erfolge“: Beim Raketenangriff auf das Haus eines Hamas-Führers in Gaza wurde nicht nur der mutmaßliche Drahtzieher blutiger Selbstmordattentate getötet, sondern mit ihm weitere 14 Menschen, darunter neun Kinder, und mehr als 140 verletzt. Mag sein, dass man im Nahen Osten schon lange nicht mehr die Maßstäbe eines demokratischen Rechtsstaats anlegen darf, der sich mit rein polizeilichen Methoden gegen Mörder zur Wehr setzt – sondern Kriegsrecht.

Von Christoph von Marschall

Das nennt Israels Regierungschef Ariel Scharon „einen unserer größten Erfolge“: Beim Raketenangriff auf das Haus eines Hamas-Führers in Gaza wurde nicht nur der mutmaßliche Drahtzieher blutiger Selbstmordattentate getötet, sondern mit ihm weitere 14 Menschen, darunter neun Kinder, und mehr als 140 verletzt. Mag sein, dass man im Nahen Osten schon lange nicht mehr die Maßstäbe eines demokratischen Rechtsstaats anlegen darf, der sich mit rein polizeilichen Methoden gegen Mörder zur Wehr setzt – sondern Kriegsrecht. Aber auch nach Kriegsrecht ist eine Militäroperation, bei der der Tod so vieler Unschuldiger in Kauf genommen wird, ein Verbrechen.

Noch ist Israel keine Diktatur. Es hat noch ein Gewissen und Demokraten wie Dalia Rabin-Pelossof, die gestern als Vizeverteidigungsministerin zurücktrat – weil die Arbeitspartei in der Großen Koalition das Erbe ihres Vaters verrate. Der Premier Jitzhak Rabin war wegen seiner Friedenspolitik von einem militanten Siedler ermordet worden.

Israel ist, alles in allem, noch immer ein Rechtsstaat. Das Oberste Gericht stoppte gestern den geplanten Abriss zweier palästinensischer Wohnhäuser im Westjordanland. Mit solchen Kollektivstrafen gegen die Familien versucht Israel seit langem Attentäter abzuschrecken. Zuvor hatte der Protest des obersten Verfassungsrichters eine Novelle des Bodenrechts verhindert, das Palästinenser vom Kauf gewisser Flächen ausschließt.

Doch Israels Demokratie und Rechtsstaat sind in Gefahr, funktionieren nicht mehr verlässlich. Das zeigen Scharons empörende Reaktion auf die schrecklichen Folgen des Raketenangriffs in Gaza und die rücksichtslose Anwendung von Methoden in der Auseinandersetzung mit palästinensischen Terroristen, die allen Rechtsprinzipien widersprechen, wie zum Beispiel Kollektivstrafen.

Israels Verteidiger argumentieren, es herrsche eben Krieg. Die Anschläge richteten sich ganz gezielt gegen Unschuldige. Und wie solle man denn Selbstmordattentäter überhaupt abschrecken, wenn nicht durch Strafandrohung gegen ihre Familien? Humanität, Verhältnismäßigkeit, Rechtsstaatlichkeit – solche Prinzipien seien gut für Westeuropa, für Amerika. Im Nahen Osten würden sie nur als Schwäche ausgelegt. Israel kämpfe um sein Überleben.

Doch Israels darf sich nicht auf eine Stufe mit den Terroristen stellen, auch nicht in der Rechtfertigung. Die Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien führt zur schleichenden Selbstvergiftung der Demokratie. Wer gestern die Kollektivstrafe bei der Hauszerstörung hinnahm, toleriert heute, dass bei der Tötung eines Attentäters gleich einige Unschuldige mit ums Leben kommen.

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