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Meinung: Schluss mit dem Genörgel

Kritik allein reicht nicht – Deutschland braucht positive Perspektiven Von Hans-Dietrich Genscher

Zukunftspolitik verlangt klare Ziele. Beispiele dafür gibt es genug. Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass in unserem Land Reformen notwendig sind, wenn wir die Zukunft für unsere Kinder gewinnen wollen. Zukunftschancen sind das zentrale Thema. Das war zwar schon immer so. In einer Zeit immer schnellerer, immer umfassenderer und tief greifenderer weltweiter Veränderungen gilt das noch viel mehr. Reform bedeutet stets auch Überwindung von lieb gewordenen vermeintlichen oder wirklichen Wohltaten, Ansprüchen und Erwartungen.

Wie der Begriff „Reform“ diskreditiert werden kann, zeigt die Rechtschreibreform. Hier hat sich jahrelang ohne Transparenz administrative Volksbeglückung austoben können. Man kann nur hoffen, dass die Ministerpräsidenten, die den Mund gegen die Rechtschreibreform gespitzt haben, nun auch pfeifen und die so genannte Reform definitiv abblasen. Aber das für sich genommen wird keine Faszination auslösen. Die aber wird gebraucht, um die große Mehrheit des Landes auf einem beschwerlichen und auch steinigen Weg mitzunehmen.

Zwar ist das Wort „Elite“ rehabilitiert, aber von wirklicher Elitenförderung ist nichts zu spüren. Die Akzeptanz vieler notwendiger Einsparungen in den öffentlichen Haushalten und in den sozialen Sicherungssystemen wird erhöht werden, wenn als Ergebnis die Zukunftschancen durch eine signifikante Erhöhung der Mittel für Schulen, Hochschulen, wissenschaftliche Institute, für Bildung und Forschung also, deutlich verbessert werden. Die Diskussion über die Zuwanderung zum Beispiel geht an der wichtigsten Zuwanderungsfrage vorbei, nämlich wie unser Land für Eliten aus aller Welt attraktiv werden kann.

Auch das zentrale Problem des Landes kann dabei mit angepackt werden, nämlich den neuen Bundesländern neue Perspektiven zu öffnen. Nachdem die Weigerung, die neuen Bundesländer zum Niedrigsteuergebiet zu machen, die riesigen Umstellungsprobleme von Staatswirtschaft in Marktwirtschaft noch verstärkt hat, sollte jetzt die Möglichkeit nicht versäumt werden, neue Attraktivität in den neuen Bundesländern durch wissenschaftliche Clusterbildung zu schaffen. Die Diskussion über die ethische Verantwortung der Wirtschaft könnte hier auch zu einem stärkeren Engagement der wirtschaftlichen Forschungsförderung führen.

Die Diskussion über die Aufnahme neuer Mitglieder in die EU wird dominiert von wirklichen oder vermeintlichen Problemen der Übergangszeit, aber nicht von dem Bewusstsein, dass Deutschland nach der Aussöhnung mit den westlichen und östlichen Nachbarn heute in der Mitte der 450-Millionen-EU neue Zukunftschancen hat. In der Zeit der Globalisierung, das heißt in der Zeit immer größerer gegenseitiger Abhängigkeit und immer größerer Annäherung der Weltregionen, gilt es, das Modell Europa als Zukunftsmodell für eine neue Weltordnung zu vertreten. Europa hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Lehren aus der Geschichte gezogen. Es kann zum Modellfall für eine gerechte Weltordnung ohne Vorherrschaft werden.

Die EU ist heute schon die modernste und am höchsten entwickelte Form des gleichberechtigten und ebenbürtigen Zusammenlebens der Völker einer Weltregion. Das ist viel verglichen mit den Problemen großer Staaten dieser Welt. Den USA zum Beispiel, die mit ihrer Rolle als verbliebener stärkster Macht immer schwerer fertig werden, die gewaltige Investitionen in die Bewältigung der Sicherheitsprobleme von gestern stecken. Russland, das noch nicht den Weg gefunden hat, einen riesigen Staat mit vielen Nationalitäten friedlich zusammenzuhalten, und China, das vor der Herausforderung steht, der wirtschaftlichen Öffnung die demokratische Öffnung folgen zu lassen.

Europa stärken und noch attraktiver machen, das ist deshalb die Priorität. Der Traum von einem deutschen Sitz im Sicherheitsrat wirkt da ziemlich antiquiert. Unser Land ist zukunftsbereit, wenn man die Perspektiven deutlich definiert – positiv eben.

Der Autor war von 1974 bis 1992 Bundesaußenminister.

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