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Meinung: Schwanger mit Risiko

WAS WISSEN SCHAFFT Schwanger sein ist in diesen Tagen besonders schwer. Zwar sind die „anderen Umstände“ nach medizinischer Definition keine „Krankheit“ – doch brauchen Frauen wahrlich starke Nerven, um von den Horror-Meldungen über die Wirkungen von Nitrofen nicht ernsthaft krank zu werden.

WAS WISSEN SCHAFFT

Schwanger sein ist in diesen Tagen besonders schwer. Zwar sind die „anderen Umstände“ nach medizinischer Definition keine „Krankheit“ – doch brauchen Frauen wahrlich starke Nerven, um von den Horror-Meldungen über die Wirkungen von Nitrofen nicht ernsthaft krank zu werden.

So viel steht fest: Bei Tierversuchen an Ratten und Mäusen führte Nitrofen zu einem vermehrten Auftreten von Missbildungen an Nieren, Herz, Lungen und anderen Organen. Für solche „Organbildungsstörungen“ ist der Embryo nur wenige Tage besonders empfänglich: An diesen Tagen genügt im Tierversuch auch eine einmalige – allerdings sehr hohe – Dosis Nitrofen, um Fehlbildungen auszulösen. Bei regelmäßiger Gabe über die gesamte Tragezeit waren die Nagerbabys zusätzlich unterentwickelt und starben einige Tage nach der Geburt, weil sich ihre Lungen nicht richtig entfalten konnten.

Um das Risiko für den Menschen abzuschätzen, werden die im Tierversuch verabreichten Mengen mit den Rückständen in Lebensmitteln verglichen: Bei Gabe über die gesamte Trächtigkeit zeigten sich bei Ratten die ersten Schäden ab 0, 15 Milligramm Nitrofen pro Kilo Körpergewicht und Tag; eine einmalige Gabe führte erst ab 75 Milligramm Nitrofen pro Kilo Körpergewicht zu messbaren Schäden. Auf eine 60 Kilo schwere Frau umgerechnet entspricht das einer Aufnahme von täglich 9 oder einmalig 4500 Milligramm Nitrofen. Der bisher gemessene Höchstwert der Nitrofen-Belastung lag bei 0,8 Milligramm pro Kilo Putenfleisch, die meisten Proben enthielten aber deutlich unter 0,2 Milligramm pro Kilo. Um die im Tierversuch gerade noch schädliche Dosis aufzunehmen, müsste eine Frau also während der gesamten Schwangerschaft täglich etwa 10 bis 40 Kilo Putenfleisch essen.

Da sich Ergebnisse von Tierversuchen nicht direkt auf den Menschen übertragen lassen, wird für gesetzliche Vorschriften bei Pestiziden ein „Sicherheitsfaktor“ von 1:100 eingesetzt. Dieser Sicherheitsfaktor ist allerdings kein Grund zur Panik, im Gegenteil: Neun Monate lang „ein Putenschnitzel pro Tag“ (100 Gramm) von dem am höchsten belasteten Fleisch – oder anderen genauso belasteten Lebensmitteln – zu bekommen, ist praktisch kaum möglich. Und selbst wenn eine Schwangere dieses extrem unwahrscheinliche Pech gehabt haben sollte, läge das aus den Tierversuchen hochgerechnete Risiko einer Fehlbildung immer noch bei unter 1:400.

Auch Schwangere, die sich vor den Folgen einer kurzzeitigen Aufnahme von Nitrofen fürchten, können beruhigt werden: Da die „Einmaldosis“ für eine Schädigung des Embryos 500 Mal höher ist, würde selbst eine Riesenportion des am höchsten belasteten Putenfleisches den Sicherheitsfaktor nicht überschreiten.

Schließlich sei ein pragmatischer Rat zur Beruhigung erlaubt: Die durch Nitrofen hervorgerufenen – und wie gesagt nur im Tierversuch bewiesenen – schweren Organschäden können durch eine Ultraschalluntersuchung in der 20. Schwangerschaftswoche mit großer Sicherheit ausgeschlossen werden. Danach kann der Nitrofen-Skandal dem Nachwuchs wirklich nichts mehr anhaben.

Der Autor ist Leiter des Instituts für Mikrobiologie an der Universität Halle. Foto: J. Peyer

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