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Meinung: Sechs rosa Muscheln

Von Pascale Hugues, Le Point

Ach tatsächlich, aus Berlin kommen Sie also!“ Irgendwie klingt der Satz wie ein Vorwurf. Ein Hauch von Ekel weht über den Strand, gepaart mit einem Schuss diffuser Angst. Als die Bewohner des benachbarten Strandkorbs am ersten Tag der Ferien erfuhren, dass wir in Berlin wohnen, hatte ich das sichere Gefühl, dass sie mit verdoppeltem Fleiß und energischen Schaufelstößen die Mauern ihrer Sandburg so hoch wie möglich aufschütteten, um eine Art hygienischen Schutzwall zwischen uns zu errichten. Wäre da nicht der süße Duft von Sonnencreme und das sanfte Geräusch von BocciaKugeln auf nassem Sand gewesen, ich wäre den Eindruck nicht mehr losgeworden, drei Wochen auf dem Grund eines Schützengrabens am Strand der Normandie zu verbringen. Berlin, das wurde mir diesen Sommer auf unserer Nordseeinsel eindrücklich klar, ist für die Mehrzahl der Deutschen ein städtischer Kadaver im Stadium der Verwesung, zerfressen von sämtlichen Lastern der Menschheit: Prostituierte, die in lückenloser Formation die Bürgersteige säumen, Heroinhandel auf unschuldigen Schulhöfen, Kampfhunde, die in U-Bahn-Unterführungen angreifen, eine Russenmafia, die der Stadt ihre blutigen Gesetze diktiert, Politiker, die entweder korrupt oder homosexuell sind (was für die Leser von „Bild“ das Gleiche sein dürfte). Ein Riesenmoloch, bevölkert von fetten, aggressiven, mürrischen Proleten ohne jede Eleganz. Selbst 15 Jahre nach der Wiedervereinigung haben viele Deutsche noch immer nicht gelernt, ihre neue Hauptstadt zu lieben. Schlimmer noch: Sie verachten sie und haben Angst vor ihr.

„Also wir kommen ja aus der Nähe von Bielefeld“, versichern mir unsere Strandkorbnachbarn hastig, und es klingt wie eine Jungfräulichkeitserklärung. Ich weiß nicht, ob ich unter Halluzinationen leide, oder ob der Speckgürtel von Bielefeld die dichtbevölkertste Region Deutschlands ist, aber es kommt mir vor, als sei diesen Sommer die Hälfte des Strandes von Urlaubern aus der Nähe von Bielefeld in Beschlag genommen. „BIELEFELD!“ haben unsere Nachbarn mit kleinen Muscheln auf die Nordflanke ihrer Burg geschrieben. Ein kleiner Perlmutt-Altar für das Paradies auf Erden, aus dem ein grausamer Gott sie für drei Wochen in diese erzwungene Strafkolonie zwischen Dünen und Gezeiten verstoßen hat. Für mich war Bielefeld bis jetzt nichts als ein Bahnhof, an dem der ICE einige Minuten Aufenthalt hatte, und den ich ohne irgendwelche Neugier am Fenster des Zugrestaurants vorbeiziehen sah.

Beschämt über meine Ignoranz und überzeugt davon, am achten Weltwunder vorbeigelebt zu haben, stürze ich mich bei meiner Rückkehr nach Berlin auf meinen Petit Robert, den französischen Brockhaus. Auf Seite 230 logiert Bielefeld zwischen Bielaïa Tzerkov (in der Nähe von Kiew) und Bielgorod (in der Nähe von Charkow). Bielefeld: drei müde Zeilen ohne jeden Enthusiasmus. Kirche aus dem 14. Jahrhundert. Renaissance-Rathaus. Wichtiges Industriezentrum. Geburtsstadt von: F.W. Murnau. „Wer sich nicht von pittoresken Straßenbahnen verzaubern lässt, riskiert, von Bielefeld enttäuscht zu werden“, schreibt mein Guide Bleu, der die Stadt mit keinem Stern würdigt. Nichts, was mir wirklich Lust machen würde, beim nächsten Mal aus dem ICE zu springen. Auf der Michelin-Karte versuche ich, „in der Nähe von Bielefeld“ ausfindig zu machen. Das Paradies liegt eingequetscht zwischen einem orangefarbenen Strang Autobahn und einem dichten Netz aus gelben und weißen Linien. Ich stelle mir die Einfamilienhäuser und das Karomuster der identischen Straßen vor, wie von meinen Nachbarn in den Sand gemalt, die Anordnung der Mülleimer, die Fahrradwege, die Tennishallen und den grünen Ozean der Golfplätze.

Ein Glück, dass ich vor unserer Rückkehr nach Berlin Vorsichtsmaßnahmen getroffen habe. Sechs glatte, rosafarbene Muscheln liegen in meinem Strandbeutel bereit. Nächstes Jahr werde ich BERLIN! auf unsere Burg schreiben.

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“.

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