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Sicherungsverwahrung: Knast ohne Schuld

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte: Der Stammtisch darf in der Diskussion um die Sicherungsverwahrung nicht die Freiheit besiegen.

Unsere Gesellschaft lebt von Freiheit. Die Grundlage der Freiheit ist Vertrauen. Nur mit Vertrauen entsteht in uns das Gefühl der Sicherheit, das grundlegend für die Akzeptanz der freiheitlichen Gesellschaft ist.

Vertrauen wiederum setzt Risikobereitschaft voraus. Wenn eine Gesellschaft dazu nicht fähig ist, geht sie den ersten Schritt in die Unfreiheit. Sie gibt sich der Angst hin, die in übertriebenes Sicherheitsdenken mündet. So verlieren wir das Grundvertrauen in die Widerstandsfähigkeit unserer Gesellschaftsordnung, das unser Gemeinwesen zur Bewahrung seines freiheitlichen Kerns benötigt.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nun verdeutlicht, wie sehr das deutsche Sicherheitsdenken unsere freiheitliche Verfasstheit beschädigt. Das Gericht hat entschieden, dass die deutschen Regeln zur Sicherungsverwahrung in Teilen gegen die Menschenrechte verstoßen. Die Richter kritisieren nicht nur einzelne gesetzliche Regelungen. Sie widersprechen auch der rechtspolitischen Grundausrichtung insbesondere seit den 90er Jahren.

Experten mahnen die Menschenrechtswidrigkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung bereits seit langem an. Dennoch haben sich die politischen Entscheidungsträger jahrelang vor einer grundlegenden Reform gedrückt. Wegen dieses Versäumnisses müssen die Länder nun von einem Tag auf den anderen Gefangene in die Freiheit entlassen. Den meisten fehlt jegliche Vorbereitung auf ein Leben außerhalb der Gefängnismauern. Das ist verantwortungslos – den Gefangenen gegenüber wie der Bevölkerung.

Die Sicherungsverwahrung war ursprünglich als strenge Ausnahme zum Schutz der Bevölkerung vor extremen Gewalttätern vorgesehen. Straftäter, die als ungewöhnlich rückfallbedroht galten, konnten bis zum Jahr 1998 für bis zu zehn Jahre nach Verbüßung ihrer eigentlichen Haftstrafe inhaftiert bleiben. Erst die rot-grüne Bundesregierung hob – mit Unterstützung der Union – diese Befristung auf. Die Parteien reagierten mit gesetzgeberischer Scharfmacherei auf wenige extreme Missbrauchsfälle durch rückfällige Straftäter.

Die Sicherungsverwahrung ist de facto ein Freiheitsentzug für eine nicht begangene Straftat. Insbesondere bei der Bestrafung Jugendlicher stellen sich Grundsatzfragen. Es ist ein unerträglicher Widerspruch, wenn ein Jugendlicher für eine tatsächlich begangene Straftat höchstens zehn Jahre Jugendstrafe erhalten kann – für ein noch gar nicht begangenes Verbrechen aber ein lebenslanges Weggesperrt-Werden befürchten muss.

Anstatt auf die Stimmen ausgewiesener Experten zu hören, hat sich der Bundestag beim Thema Sicherungsverwahrung über Jahre dem Willen der Stammtische gebeugt. Populistische Scharfmacherei überwog fachliche Sorgfalt. Das Ergebnis ist gesetzgeberische Flickschusterei.

Es ist deshalb an der Zeit, eine Reform der Sicherungsverwahrung „aus einem Guss“ anzugehen. Trotz der misslichen Situation nach dem Straßburger Urteil wäre Eile verfehlt. Der Bundestag muss eine fachübergreifende Expertenkommission einberufen. Nur praxisnahe, wissenschaftlich fundierte Empfehlungen können ein erneutes Abrutschen auf Stammtischniveau verhindern.

Nicht ohne Grund gilt in unserem Rechtswesen die Unschuldsvermutung. Lieber lassen wir hundert Schuldige laufen, als einen Unschuldigen zu inhaftieren. Diese vornehme Haltung verkörpert beispielhaft das Bewusstsein über die Risiken, die unsere freiheitlichen Werte mit sich bringen. Mit Blick darauf erfordert die Reform der Sicherungsverwahrung eine Debatte über die Verträglichkeit dieses Instruments mit unseren Grundwerten. Hoffentlich werden wir hierbei zum Schluss kommen, dass Freiheit immer auch Gefahren mit sich bringt. Jeder Mensch ist und bleibt Träger von Chance und Risiko. Das sollten wir akzeptieren.

Der Autor ist ehemaliger Bundesrichter, stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags und Justiziar der Fraktion Die Linke.

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