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Meinung: Sind die Forderungen der Streikenden gerechtfertigt?

„Verdi weitet Streik aus – Arbeitgeber gelassen“ vom 14. Februar 2006 und „Weiter denken“ vom 13.

„Verdi weitet Streik aus – Arbeitgeber gelassen“ vom 14. Februar 2006 und „Weiter denken“

vom 13. Februar 2006

Eines ist seit Jahren salonfähig gemacht geworden: Ungezügelter Abbau von Rechten der Arbeitnehmer und deren Einkommensverzicht im Verhältnis zur unbegrenzten Gewinnmaximierung der Arbeitgeber ist chic und völlig legitim.

Demzufolge herrscht in der Gesamtheit der Arbeitnehmer eine fast lähmende Existenzangst. Gerade auch im Hinblick auf die eventuell noch bevorstehende Verwässerung der Arbeitnehmerschutzrechte (Änderung des Arbeitzeitgesetzes und des Kündigungsschutzgesetzes). Immerhin droht schon jetzt jedem Menschen in unserem Land, außer den Beamten und den Berufspolitikern, die von Rot-Grün per Gesetz verordnete Verarmung als ALG-II-Empfänger. Egal, wie lange das einzelne Individuum die deutsche Volkswirtschaft mit seinen beruflichen Anstrengungen stützte.

Wenn jede Personengruppe solidarisch gleichermaßen Belastungen ertragen müsste, dann würde sich auch das gewünschte Wir-Gefühl entwickeln. Die Basis für die gemeinsame Anstrengung aller, die Wirtschaft des Landes zu verbessern. Solange jedoch immer noch die politisch naive Hoffnung lebt, die Unternehmen investieren sobald sie Gewinne maximieren, vergisst dass noch niemand daran zu Grunde ging, wenn er seine Gewinne mitnahm und behielt. Die Politik setzt auf Moral, Verantwortung und Ethik. Das scheinen Anachronismen zu sein und ganz gewiss keine Wirtschaftsfaktoren. Streik und ein selektiver Konsumverzicht der Arbeitnehmer als Konsumenten sind die einzig vorhandenen Mittel der Arbeitnehmer im Arbeitskampf und wären in Kombination eine Chance dies nachhaltig zu ändern.

Mario Dziedzinski, Bad Sachsa

Sehr geehrter Herr Dziedzinski,

Sozialabbau, Abbau von Schutzrechten, Profitgier der Unternehmer, nicht funktionierender Investitionsmechanismus – diese Vorwürfe an die Adresse von Politik und Wirtschaft gerichtet, leuchten vielen ganz selbstverständlich ein. Doch schon beim Befund ist vor parolenhaften Vereinfachungen zu warnen. Sozialabbau? Nein, das Sozialbudget erreicht rund ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts, die Ausgaben für das Arbeitslosengeld II liegen höher als für die Altsysteme, erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger werden erstmals durch die Arbeitsverwaltung gefördert. Abbau von Schutzrechten? Wo denn? Greifbare Änderungen im Arbeitsrecht hat es mit Ausnahme der Kriterien für die Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen nicht gegeben.

Profitgier unserer Unternehmer? Im Durchschnitt der letzten zehn Jahre erreichten die deutschen Unternehmen mit einer Nettoumsatzrendite von 2,4 Prozent international Rang 16. Im Jahr 2004 lagen wir sogar auf Platz 17. In diesem internationalen Renditeumfeld kann Deutschland nicht der vorrangige Investitionsstandort sein. Wir müssen den Standortwettbewerb akzeptieren, der Investitionsmöglichkeiten anhand der Gewinnaussichten im internationalen Vergleich bewertet. Die Gewinne bei uns müssen weiter steigen, wenn sich eine kräftige Investitionskonjunktur einstellen soll. Nicht übersehen werden sollte, dass im Jahre 2005 erstmals die Ausgaben der Unternehmen für neue Investitionsgüter wieder merklich zugenommen haben und für das Jahr 2006 die Aussicht auf eine weitere Stärkung besteht. Spät, aber immerhin ist also der Investitionszug in Gang gekommen.

So weit zu den Befunden, die man zur Kenntnis nehmen sollte. Natürlich beherrscht uns trotz erkennbarer konjunktureller Erholung die Erkenntnis, dass wir mit dem Abbau der Arbeitslosigkeit nicht spürbar vorankommen. Die entstehenden Beklemmungen sind gut zu verstehen. Deshalb muss die Wirtschaftspolitik alles daransetzen, über einen Strauß von Reformen die wirtschaftliche Dynamik in unserem Land zu stärken. Dies zu tun entspricht höchsten moralischen Kriterien der Marktwirtschaft, die als System des Mitmachens aller auf Chancengerechtigkeit setzt.

Dabei helfen die Streiks im öffentlichen Dienst nicht, sie schaden erheblich. Denn der Staat ist keine große Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Der Staat legitimiert sich vielmehr durch sein Leistungsangebot dort, wo der Markt aus seiner Funktionslogik heraus ein Angebot nicht erbringt. Die öffentlichen Leistungen sind so effizient wie möglich zu erbringen, das heißt auch hier gelten im Quervergleich die Leistungsstandards der privaten Wirtschaft. An einer längeren Wochenarbeitszeit führt deshalb kein Weg vorbei. Die dadurch auf mittlere Sicht mögliche Minderung der Steuerlast schafft Beschäftigungschancen an anderer Stelle.

Anerkennen wir endlich die Realität. Streik und selektiver Konsumverzicht werden uns dagegen höchstens ärmer machen. Wohlstand entsteht nur durch mehr Arbeit.

Mit freundlichen Grüßen

— Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor

des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln

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