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Meinung: Sinn ohne Sinnlichkeit

Vor lauter Reform vergessen Deutschlands Protestanten ihren eigentlichen Auftrag

Vielleicht sollten die deutschen Protestanten einfach mehr singen. Als die dreihundert Pfarrer und Bischöfe am Donnerstagabend Luthers Predigtkirche in Wittenberg zum Klingen brachten, da war sie auf einmal da, die Aufbruchstimmung und die Gewissheit, dass es schon gut sein wird, was die Zukunft an Neuem bringt. Die klaren, kräftigen Melodien können beflügeln, wie es kein noch so brillanter theologischer Vortrag schafft.

Genau dieser emotionale und spirituelle Schwung ist entscheidend. Wenn er fehlt, werden die Reformprozesse kaum die „missionarische Ausstrahlung“ entfalten, die sich die evangelische Kirche erhofft. Das „Impulspapier“, mit dem die EKD die Veränderungen anstoßen will, und auch die beiden ersten Tage des Zukunftskongresses machen in dieser Hinsicht allerdings nicht viel Hoffnung.

Keine Frage, es ist wichtig, dass die Protestanten ihre Probleme anpacken. Es ist notwendig, darüber zu reden, ob Landeskirchen im Jahr 2007 die Grenzen von Fürstentümern haben müssen und wodurch sich der sächsische Gottesdienst vom badischen unterscheidet. Es hat seinen Sinn, dass in diesen Tagen in Wittenberg viel von Strukturen, von Leistung und Qualität die Rede ist und das auf hohem Niveau. Das ist Protestantismus pur. Und sehr deutsch, wie der Vertreter der Anglikanischen Kirche anmerkte. Viel Intellekt, viel Wissen und Kompetenz. Aber ein bisschen blutleer und humorlos eben.

Das reicht nicht. Nicht für einen Kongress, der gleich eine ganze „Reformdekade“ eröffnen und direkt an den Aufbruch Martin Luthers anknüpfen will. Und schon gar nicht für eine Kirche, die „gegen den Trend wachsen“ möchte. Die jene auf sich aufmerksam machen will, die sich tragen lassen wollen von etwas Größerem, aber nicht sonntags in die Kirche gehen, die nach einem heiligen Schauder suchen und nach jemandem, der ihnen Mut macht, wenn das Unglück vor der Tür steht.

Die neue, zarte „Religiosität“, von der gesprochen wird, wächst nicht aus theologischen Abhandlungen, auch nicht aus dem Gemeindekirchenrat. Sondern aus einem tiefen Bedürfnis nach Spiritualität. Die Erneuerung der Kirche wird aus der Mystik kommen, hat der Jesuit Karl Rahner schon vor vielen Jahren prophezeit. Die evangelische Kirche verpasst eine Chance bei ihrer Erneuerung, wenn sie nicht ernst nimmt, welche grundsätzliche Bedeutung die spirituelle Erfahrung für den Glauben hat.

Erst wer Gottes Anwesenheit spürt, körperlich und seelisch, bringt den Mut auf, Neues wirklich an sich heranzulassen. Es gibt viele Wege, Mystisches zu erleben. Manchmal genügt es, in einer Kirche zu sitzen und das Gewölbe, das Licht und die Stille auf sich wirken zu lassen. Andere meditieren oder singen – alles in allem ziemlich zwecklose Tätigkeiten, gemessen an Finanzberichten, Statistiken und „Taufquoten“.

Es wäre schade, wenn die evangelische Kirche bei allem Brüten über Strukturreformen und wer wem was zu sagen hat das Zwecklose, Ungreifbare und Flüchtige aus dem Blick verliert, das doch eigentlich das Wesen des Glaubens ausmacht. Und aus dem die Kraft für den erbetenen Mentalitätswechsel kommen kann.

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