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Meinung: So geht’s nicht weiter

Wenn die EU überleben will, muss sie sich vertiefen Von Heinrich August Winkler

Im Ausland gilt Deutschland als der kranke Mann Europas. In einer gemeinsamen Reihe von Tagesspiegel und DeutschlandRadio Berlin suchen prominente Autorinnen und Autoren nach Wegen aus der Krise. Zu hören sind die Beiträge sonntags um 12 Uhr 10 auf UKW 89,6.

Europa steckt in der Krise: Daran gibt es seit dem Scheitern des Verfassungsentwurfs keinen Zweifel mehr. Eine Zeit lang schien es zwar, als läge die Krise bereits hinter uns: In der umstrittenen Frage der Mehrheitsentscheidungen zeichnen sich Kompromisse ab, die auch von den beiden Neinsagern vom Dezember 2003, Polen und Spanien, akzeptiert werden könnten. Aber seit dem 20. April ist wieder völlig offen, ob die Verfassung je in Kraft treten wird. Das britische Referendum, das Tony Blair ankündigte, ist ein Unsicherheitsfaktor erster Ordnung. Dass eine Mehrheit der Briten der Verfassung zustimmt, ist eher unwahrscheinlich. Auch in einigen anderen Ländern ist der Ausgang der Volksabstimmungen ungewiss.

Das wichtigste am Verfassungsentwurf ist die Reform der Entscheidungsprozesse. Ohne diese Reform kann die EU die eben vollzogene Erweiterung um zehn neue Staaten nicht bewältigen, von der Aufnahme weiterer Mitglieder ganz zu schweigen. Sollten Großbritannien und andere Staaten die Verfassung ablehnen, hat die EU in der jetzigen Form keine Zukunft mehr. Dann werden sich die integrationswilligen Mitglieder enger zusammenschließen, was nichts Geringeres als die Schaffung einer neuen EU bedeuten würde. Sollten sich daran nur westeuropäische Altmitglieder beteiligen, wäre das Ergebnis eine neue Ost-West-Spaltung des Kontinents.

Vermutlich wird es so nicht kommen, weil es auch unter den neuen Mitgliedern aus Ostmitteleuropa integrationswillige Staaten gibt, die bereit und entschlossen sind, ihre Souveränität gemeinsam mit anderen auszuüben. Aber das Ausscheiden von Nettozahlern wie Großbritannien aus der EU hätte dramatische Folgen. Wirtschaftlich schwache Staaten Südosteuropas wie Bulgarien und Rumänien könnte die amputierte EU auf absehbare Zeit nicht aufnehmen. Noch weniger realistisch wäre es dann, an baldige Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu denken.

In jüngster Zeit haben Befürworter eines türkischen Beitritts, unter ihnen Außenminister Fischer, vor allem geostrategische Gründe vorgetragen. Nur ein Europa, das bis zum Euphrat reicht, habe die richtige Größe, um zum weltpolitischen Akteur aufzusteigen. Doch geografische Ausdehnung garantiert noch nicht politische Kraft. Ein Großeuropa, das an Syrien, Irak und Iran grenzt, wäre ein Koloss auf tönernen Füßen: räumlich groß, aber politisch schwach.

Eine politisch handlungsfähige EU bedarf eines Wir-Gefühls, eines Bewusstseins von Zusammengehörigkeit und Solidarität. Sie muss an gemeinsame Prägungen und Erfahrungen appellieren können. Eine Vertiefung des Einigungsprozesses wird nicht schon durch einen zwischenstaatlichen Vertrag über eine Verfassung für Europa sichergestellt. Vertiefung verlangt Arbeit an der Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit. Daran haben es die EU und ihre Mitgliedstaaten fehlen lassen, und deswegen ist die EU in ihre bislang schwerste Krise geraten. Um politisch zu überleben, muss die EU nicht größer werden. Vielleicht muss sie sogar vorübergehend kleiner werden.

Ein gesamteuropäisches Verfassungsreferendum, wie es von der CSU neuerdings vorgeschlagen wird, ist jedoch kein geeignetes Mittel, um die Einigung Europas voranzubringen. Die Mitgliedstaaten der EU wollen die „Herren der Verträge“ bleiben und haben nicht vor, durch die Hintertür des Referendums einen neuen Souverän, ein europäisches Staatsvolk, zu schaffen. Täten sie es, wäre das der Schritt vom Staatenverbund zum Bundesstaat – ein Schritt, den Europa bisher nicht gehen will.

Nationale Volksabstimmungen über Europas Verfassung sind etwas anderes. Man muss kein Freund plebiszitärer Demokratie sein, um ein Referendum auch in Deutschland zu befürworten. Der Bundestag hat am 28. Mai einen entsprechenden Antrag der FDP mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt. Das ist bedauerlich. Ein deutsches Referendum hätte eine gute Gelegenheit geboten, Europa vom Ruf eines reinen „Elitenprojekts“ zu befreien. Das vereinte Europa wird zu einer Sache der Völker werden, oder es wird nicht zustande kommen.

Der Autor lehrt Geschichte an der Humboldt-Universität.

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