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Das  Bild zeigt mehrere junge Männer und Frauen, die nackt bis auf die Unterwäsche 2010 am Flughafen Tegel gegen den Einsatz von Nacktscannern protestiert haben.

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Spähprogramme Prism und Tempora: Lieber nackt als tot

Es gibt viele gute Gründe, für Überwachung zu sein. Sie ist nützlich. Sie ist in demokratischen Staaten weniger gefährlich als in autokratischen Staaten. Doch die Argumentation der Befürworter führt in kafkaeske Systeme, wie Prism zeigt.

Von Anna Sauerbrey

Es gibt keinen konkreten Grund, sagen viele, gegen den demokratischen Überwachungsstaat zu sein, im Gegenteil. Es gibt viele Gründe für ihn. Erstens: Überwachung tut niemandem weh. Das Speichern von IP-Adressen, Verbindungsdaten und E-Mails auf der NSA-Serverfarm in Bluffdale, Utah, ist erwiesenermaßen nicht krebserregend – und die Kopfschmerzen, die so mancher Liberale davon bekommt, sind eher psychosomatisch. Zweitens: Der Nutzen ist erheblich. Gerade hat die deutsche Polizei einen Mann gestellt, der über Jahre an Autobahnen immer wieder andere Fahrer beschossen hat. Und zwar, indem die Beamten systematisch Autokennzeichen filmten und auswerteten. Der amerikanische Präsident wiederum versichert, dass seit 9/11 durch Prism rund 50 terroristische Anschläge verhindert werden konnten. Drittens: Die Nebenwirkungen scheinen gering zu sein. Wenn es Fälle von Missbrauch gab, sind sie nicht bekannt. Eine nüchterne Kosten-Nutzen-Abwägung muss also zugunsten der Überwachung ausfallen. Lieber nackt als tot – so oder ähnlich sehen es rund 40 Prozent der Deutschen und 45 Prozent der Amerikaner.

Den Kritikern, die sich mit der Nützlichkeit allein nicht zufriedengeben wollen, die von Staatsfreiheit und Postgeheimnis reden, von einem latenten und auf die Dauer zersetzenden Überwachungsgefühl, von einem Wandel der Kommunikationskultur, ja, von Verfassungsbruch, antworten die Verfechter: Gerade weil wir eine Verfassung haben, die uns grundsätzlich vor dem Staat schützt, können wir auch besonderes Vertrauen in unsere Institutionen haben. Wir dürfen darauf vertrauen, dass „der Staat“ seine Macht nicht missbraucht. Die Guten dürfen mehr als die Bösen.

Die Problematik beginnt an dem Punkt, an dem das Nützlichkeitsargument mit dem Vertrauensargument verschmolzen wird. Die Verbindung führt in ein hermetisches, ja, kafkaeskes Begründungssystem, das den Bürger ausschließt und das zu Rechtfertigung und zu Rechenschaft nicht mehr geeignet ist.

Prism zeigt das deutlich: Die der Überwachung zugrunde liegenden Anti-Terrorgesetze sehen die Anweisung zum Datenabgreifen sowie die Festlegung des Umfangs durch Geheimgerichte vor. Durchgeführt wird die Überwachung von Geheimdiensten, die nur in geringem Maße dem Kongress verpflichtet sind. Was sie den Abgeordneten mitteilen, bleibt wiederum geheim. Der Präsident behauptet, das alles sei furchtbar nützlich, die Belege dafür aber sind auch geheim, aus operativen Gründen („wo kämen wir hin, wenn die Terroristen wüssten, wie wir vorgehen!“), er beruft sich auf die guten Absichten, die ihm qua Amt inhärent sind.

Nur – ist ein solch geschlossenes System noch das „gute System“, das das Vertrauen der Bürger verdient?

Nicht das Vertrauen, sondern das Misstrauen ist der Lebensfunke der Demokratie. Es ist das Seitenstechen, dass den Dauerläufer innehalten und prüfen lässt, ob er noch auf dem richtigen Weg ist. Es ist in alle guten Verfassungen eingebaut, als „Checks and Balances“, in Form von parlamentarischer Kontrolle, einer unabhängigen Justiz, dem regelmäßigen Austausch der Mächtigen, in Form von Rechnungshöfen und Berufungsmöglichkeiten. In der vergeheimdiensteten Demokratie, im demokratischen Überwachungsstaat, droht vieles davon zu einer einzigen Maschine zu verschmelzen. Und mag die Maschine noch so nützlich sein – wo laut zum Vertrauen aufgefordert wird, ist Misstrauen angebracht.

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