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Meinung: Stolz im Rechtsstaat

Der Hamburger Al-Qaida-Prozess vor einer Wende?

Von Frank Jansen

Sie waren schon stolz, der Bundesinnenminister und der Generalbundesanwalt. Als das Hamburger Oberlandesgericht im Februar den Marokkaner Mounir al Motassadeq zu 15 Jahren verurteilte, wegen Beihilfe zum Mord an 3066 Menschen, konnte die Bundesrepublik das weltweit erste Urteil zum Terrorangriff des 11. September vorweisen. Doch der Erfolg ist fragwürdig. Es droht eine doppelte Blamage: Der im August begonnene zweite Al-Qaida-Prozess in Hamburg, in dem der Marokkaner Abdelghani Mzoudi mit fast derselben Anklage konfrontiert ist wie zuvor Motassadeq, könnte platzen. Womit auch das harte Urteil gegen Motassadeq hinfällig sein dürfte und die enormen Zweifel an der Beweisführung gegen Motassadeq und Mzoudi bestätigt wären.

Ausgerechnet der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, hat die Bedenken verstärkt. Am Freitag sagte Fromm vor dem Hamburger Gericht, die Anschläge des 11. September seien nicht in Hamburg geplant worden, sondern Ende 1999 in Afghanistan. In der Anklage der Bundesanwaltschaft gegen Mzoudi steht jedoch, „spätestens im Frühsommer 1999“ habe die Gruppe um Atta in Hamburg den Entschluss gefasst, den USA „durch Terroranschläge mittels entführter Flugzeuge einen schweren Schlag zu versetzen und Tausende von Menschen zu töten“. Mit diesem Satz ging die Bundesanwaltschaft sogar über die Anklage gegen Motassadeq hinaus, in der von einem konkreten Tatentschluss in Hamburg „spätestens im Oktober 1999“ die Rede ist. Wenn jedoch die genannten Zeiten falsch sind und auch nicht Hamburg der Ort der Anschlagsplanung war, werden die schon vorher nicht gerade üppig begründeten Vorwürfe gegen Motassadeq und Mzoudi noch dünner.

Der Vorsitzende Richter des Hamburger Gerichts, Klaus Rühle, meinte nach dem Auftritt Fromms sogar, wenn dessen Aussage stimme, hätte Motassadeq freigesprochen werden müssen. Nahe liegend wäre jetzt wohl auch, den Haftbefehl gegen Mzoudi zu prüfen. Sollte das Gericht darauf verzichten, macht es sich möglicherweise strafbar. Generell gilt: Wird ein Häftling trotz anzunehmender Unschuld nicht entlassen, setzt sich die Justiz den Vorwürfen der Freiheitsberaubung und Rechtsbeugung aus.

Eine solche Wende im Mzoudi-Prozess wäre nicht wirklich überraschend. Die bislang aufgetretenen Zeugen haben den Angeklagten kaum belasten können. Die islamistische Gesinnung Mzoudis und seine Nähe zur Atta-Gruppe lassen zwar vermuten, dass er in die Vorbereitung des 11. September eingeweiht war. Und mit kleineren Finanztransfers geholfen hat. Es ist auch möglich, dass Mzoudi im Frühjahr 2000 nach Afghanistan reiste, weil er in die Pläne einbezogen war. Aber Vermutungen sind keine Beweise. Werden diese nicht erbracht, muss ein Angeklagter freigesprochen und aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Auch auf die Gefahr hin, dass er doch ein Terrorist ist.

Im Fall Motassadeq ist die Lage ähnlich. In seinem Prozess wertete das Gericht sogar die entlastende Aussage eines Zeugen gegen Motassadeq – mit dem Argument, der Zeuge habe gelogen, weil er sich sonst selbst strafbar gemacht hätte. Das kann sein. Dennoch hätte der Grundsatz „in dubio pro reo“ auch für Motassadeq gelten müssen. Die Justiz darf nicht um jeden Preis versuchen, Erfolge im Kampf gegen den Terrorismus zu präsentieren. Der Rechtsstaat kann auch auf seine Fähigkeit stolz sein, Zweifeln nachzugeben.

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