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Stuttgart 21: Rentner in Rage

Woher kommt also der Furor, wenn es um den Bau eines Bahnhofs geht? Henryk M. Broder erklärt den bürgerlichen Zorn gegen das Milliardenprojekt Stuttgart 21.

Lange nichts mehr von dem Schlichtungsverfahren unter dem Vorsitz von Heiner Geißler gehört, bei dem Befürworter und Gegner von “Stuttgart 21” sich miteinander unterhalten wie Evolutionisten und Kreationisten über den Urknall. Deswegen wollen wir die kleine Atempause nutzen, um mal darüber nachzudenken, warum so viele ältere Menschen an den Demonstrationen gegen den Abriss des alten Stuttgarter Bahnhofs und den Bau einer neuen unterirdischen Shopping mall mit Gleisanschluss teilgenommen haben.

Vordergründig ging es um die hohen Kosten, die lange Bauzeit und einige Bäume, die gefällt werden müssten. Das übliche Programm also, wie wir es schon öfter erlebt haben; in Frankfurt bei der Startbahn West und in Berlin beim Tiergartentunnel, also immer dann, wenn ein Großprojekt in Angriff genommen wird. So war es auch schon beim Bau der ersten Eisenbahnstrecke von Nürnberg nach Fürth im Jahre 1835. Die Kosten betrugen 175.000 Gulden, 35.000 mehr als geplant. Auch wurden die Notwendigkeit und die Wirtschaftlichkeit der Strecke von Anfang an in Frage gestellt.

Nun ist das Demonstrieren und das Protestieren, das Dagegensein und das Auf-den-Putz-hauen schon immer ein Privileg der Jugend gewesen. Hat man bzw. frau erstmal Familie, einen Bausparvertrag und eine LH-Miles-and-More-Karte, neigt man eher dazu, sich die Demonstrationen von einem Ikea-Sofa aus auf einem Fernseher aus dem Media-Markt anzuschauen.

In Stuttgart war es anders. Da zogen rüstige Rentner auf die Straße und riefen “Wir sind das Volk!” und “Mit uns nicht!” Sie legten eine Energie an den Tag, mit der man eine Kleinstadt hätte beleuchten können. Man kann wohl ungeprüft davon ausgehen, dass sie dem Fortschritt nicht grundsätzlich abgeneigt sind. Dass sie zu keinem Arzt gehen würden, in dessen Praxis noch Geräte aus den 50er Jahren stehen. Dass sie in Esslingen nicht in einem Haus mit Klo auf halber Treppe und Kohleheizung wohnen und auch in Alicante, Rimini und Famagusta auf eine Klimaanlage im Zimmer nicht verzichten möchten.

Woher kommt also der Furor, wenn es um den Bau eines Bahnhofs geht? An den Kosten kann es nicht liegen, denn die Milliarden werden weder verbrannt noch nach Afrika geschickt, sie kommen Hunderten von Betrieben zugute, die in der Region angesiedelt sind, Tausende von Menschen beschäftigen und die Konjunktur in Gang halten. Die Erklärung für das militante Verhalten der demonstrierenden Rentner ist so einfach, so nahe liegend und so natürlich, dass es in der Tat ein wenig Mühe kostet, sie zu finden.

Es ist die Bauzeit. Fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit. Im Strafvollzug ist es “lebenslänglich”. Wir schreiben das Jahr 2010. Man muss sich nur einmal ein Handy aus dem Jahre 1995 ansehen, um zu begreifen, was alles in 15 Jahren passieren kann. Dennoch fehlt uns die Phantasie uns vorzustellen, was es im Jahre 2025 geben wird. Und das Schlimmste ist: Viele von uns werden es nicht erleben. Ein Rentner, der heute 70 ist, hat zwar bessere Aussichten als vor einem halben Jahrhundert 85 zu werden, aber er weiß auch, dass es dafür keine Garantie gibt. Wenn er also auf die Straße geht und gegen den Bau eines neuen Bahnhofs demonstriert, dann hat er nichts gegen einen neuen Bahnhof, aber alles gegen eine Innovation, die für ihn zu spät kommt. Gäbe es einen Spruch, mit dem man den Bahnhof herbeizaubern könnte, von jetzt auf gleich, könnte der Rentner also in den Genuss der Aufzüge und Rolltreppen sofort kommen, statt sich wie bisher die Treppen rauf- und runter zu quälen, hätte er nicht nur nichts gegen den Bahnhof, er wäre sogar massiv dafür, so wie er dafür war, dass in seinem Seniorenheim Treppenlifte eingebaut wurden.

Der Rentner hat recht. Warum soll er jahrelang Baulärm, Behinderungen und Umleitungen hinnehmen, die ihm am Ende nicht zugute kommen werden? Damit seine Kinder es besser haben? Was für ein Unsinn! Die haben es jetzt schon besser. Es ist, als würde man bei einer Tombola die Lose heute verkaufen, aber die Ziehung erst in ein paar Jahren vornehmen. Oder einen Maßanzug bestellen, der erst nach dem Ableben des Kunden geliefert wird. Der Rentner von heute will alles, und das sofort! Und wenn er es nicht bekommt, dann sollen andere es auch nicht haben.

Und nun zurück zu Heiner Geißler.

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