Syrien und der Westen: Das nächste Massaker muss verhindert werden

Es ist der Blick in die Hölle. Die ganze Welt war in den letzten Tagen Augenzeuge des neuen bestialischen Infernos in Syrien. Wer die Videos der nebeneinanderliegenden toten Kinder, ihrer fassungslos weinenden Eltern, der hilflos zitternden Opfer und deren herzzerreißend panische Blicke gesehen hat, wird dies nie vergessen. Mit dem Giftgasangriff vom Mittwoch hat das syrische Regime erstmals eindeutig die „rote Linie“ überschritten, die die Vereinigten Staaten vor einem Jahr für ein Eingreifen auf dem Schlachtfeld gezogen haben.

Und so ringen die westlichen Staatschefs jetzt um eine angemessene Antwort. US-Präsident Barack Obama steht mit seiner Militärdrohung im Wort, sekundiert von Frankreich und Großbritannien. Doch anders als im Libyenkrieg gegen Muammar Gaddafi gibt es in Syrien nach mehr als zwei Jahren Bürgerkrieg überhaupt keine klaren Fronten mehr. Je länger das monströse Dauermorden anhält, desto verworrener wird, was der Westen in Syrien noch tun kann – und was er noch erreichen kann.

1200 Widerstandsgruppen kämpfen inzwischen in Syrien

Wer die US-Erfahrung im Irak als Maßstab nimmt, kann sich das Szenario einer zweiten Bodenoffensive, diesmal in Syrien, leicht ausmalen. Fremde Truppen und Panzer auf Assads Boden müssten zehn oder mehr Jahre bleiben, mit hohen Verlusten rechnen und hätten am Ende dennoch nichts zur Befriedung des Landes erreicht. 1200 Widerstandsgruppen kämpfen inzwischen in Syrien. Mindestens 4000 Al-Qaida-Gotteskrieger der sunnitischen Seite stehen ähnlich starken Bataillonen der Hisbollah gegenüber, während das Flüchtlingsdrama der Zivilbevölkerung apokalyptische Dimensionen erreicht, nicht nur für den krisengeschüttelten Orient, auch im Weltmaßstab. Und wenn die westlichen Truppen dann wieder eines Tages dezimiert und zermürbt abziehen, würden die örtlichen Kontrahenten – wie jetzt im Irak – erneut mit voller Wucht aufeinander losgehen.

Beschränkt sich der Westen dagegen auf Luftangriffe, beschleunigt er mit seinen Cruise Missiles und F-16-Jets möglicherweise den Sturz von Baschar al Assad und den Sieg der Opposition, macht aber gleichzeitig auch die Al-Qaida- Dschihadisten in Teilen des Landes zu den neuen Herren. Was das bedeutet, darauf geben die syrischen Kurdengebiete momentan einen ersten Hinweis.

Al Qaida könnte sich einnisten

Über 40 000 Menschen haben die Extremisten allein in den vergangenen acht Tagen in ihrem Kampf um die Vorherrschaft in den benachbarten Nordirak vertrieben. Zum ersten Mal würde sich Al Qaida nahe der Mittelmeerküste in territorialen Enklaven festsetzen. Die Folgen dessen hat bisher nur der Jemen entlang des Golfs von Aden erlebt – totale Terrorisierung der Bevölkerung, zerstörte Ortschaften, hunderttausende Dauervertriebene.

Bleibt der teuflische Giftgasangriff am Ende ohne militärische Reaktion, wird ihm bald das nächste, noch viel größere Massaker folgen. Iran und Russland tönen dieser Tage wieder drohend gegen ein Eingreifen von außen. Beide aber haben inzwischen auch zweite Gedanken. Der Iran möchte unter seinem neuen Präsidenten das Verhältnis zum Westen entspannen. Seine Bevölkerung war im Krieg gegen Saddam Hussein vor drei Jahrzehnten selbst Opfer von Chemiewaffen. Russland hat sich als eiserner Verbündeter Syriens bereits so weit exponiert, dass ihm am Ende der gesamte Orient den Rücken kehren könnte.

Seit dem Sturz von Mohammed Mursi in Ägypten und dem Besuch des saudischen Außenministers in Moskau liebäugelt der Kreml erstmals wieder mit eigenen strategischen Ambitionen im Nahen Osten zulasten Washingtons. Das ganze Unterfangen jedoch wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn sich Wladimir Putin jetzt auch noch als skrupelloser Giftgaskomplize Assads gebärden würde. Und so werden westliche Luftschläge gegen Kasernen der Elitetruppen, Militärflughäfen oder Bombendepots kein ernsthaftes Contra vonseiten der Assad-Verbündeten bekommen. Syriens Regime aber könnten sie abschrecken, noch einmal einen Giftgas-Massenmord an eigenen Kindern, Frauen und Männern anzurichten. Wenigstens das.