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Wo die Toten ruhen. Der Berlin Friedhof der Georgen Gemeinde sowie der Parochial - und St. Petri Gemeinde in der Landsberger Allee 48 in Friedrichshain.

© Doris Spiekermann-Klaas

Totensonntag: Ins Offene

Sterben und Tod sind längst keine Tabuthemen mehr. Wir begegnen ihnen auf allen Kanälen. Trotzdem fällt es uns schwer, das Leben loszulassen. Denn die Endlichkeit ist die ultimative Kränkung für den modernen, selbst bestimmten Menschen.

Im 15. Jahrhundert, als die Pest an viele Türen klopfte, kamen „Sterbebüchlein“ in Mode. Der Tod überraschte die Menschen in dieser Zeit oft, so dass sie sich nicht vorbereiten konnten, und weil so viele starben, konnte auch nicht immer ein Priester dabei sein. Die Büchlein gaben ihnen Regeln an die Hand, wie sie den Übergang vom Leben zum Tod allein meistern sollten: durch Glaubensstärke, Demut und Entsagung. Denn sterben war noch nie einfach.

Eine Art modernes Sterbebüchlein findet sich auf der Internetseite der ARD, die gerade eine „Themenwoche“ zum Sterben und zum Tod ausgestrahlt hat. Um sicherzugehen, dass beim Sterben „die eigenen Wünsche und Bedürfnisse so weit wie möglich berücksichtigt werden“, rät der Fernsehsender, „rechtzeitig vorzusorgen“: mithilfe von Verfügungen, Vollmachten und Versicherungen. Angefangen bei der Vorsorgevollmacht über die Patientenverfügung, den Organspendeausweis und Regeln für die Sterbebegleitung bis hin zur Bestattungsverfügung, Sterbegeldversicherung und zum Erbvertrag. Die mittelalterlichen Demutsübungen und die heutigen Vorsorgemaßnahmen verfolgen das gleiche Ziel: den Menschen die Angst zu nehmen und so etwas wie „gutes“ Sterben zu ermöglichen. Doch wo das Mittelalter empfiehlt, sich mit Hoffnung aufs Paradies in sein Schicksal zu fügen und zu lernen, alles loszulassen, geht es heute darum, an dem, was man hat, festzuhalten und das Ende akribisch zu planen.

So ist der Tod längst kein Tabuthema mehr. Im Gegenteil: Er begegnet uns auf allen Kanälen. Alzheimerkranke bevölkern die Leinwand, im April ging der Deutsche Filmpreis an Andreas Dresens Krebsdrama „Halt auf freier Strecke“, die Goldene Palme an Michael Hanekes Sterbeepos „Liebe“. Auf dem Buchmarkt haben Bekenntnisse todkranker Prominenter Konjunktur. Journalisten begleiten Menschen ans Sterbebett von Angehörigen und Freunden, auf Facebook bloggen todkranke Jugendliche. In der politischen Arena wird über Sterbehilfe und Organtransplantation gestritten oder über die Fragen, wer die Dementen pflegen soll und ob die Rente auch zum Leben reicht oder nur zum Sterben.

Das Thema ist wichtig geworden, weil das Sterben für den modernen Menschen besonders schwer ist. Über Jahrtausende erleichterten Religionen und Kulte mit ihren Riten und dem Glauben an ein Weiterleben im Jenseits den Übergang vom Leben zum Tod. Doch das Vertrauen in religiöse Zusagen schrumpft wie das Eis der Alpengletscher. Noch 59 Prozent der Deutschen sind Kirchenmitglieder. Selbst von ihnen glaubt nur noch eine Minderheit an die Auferstehung nach dem Tod. Der Mensch hier und heute ist endgültig das Maß aller Dinge geworden. Die meisten Westeuropäer wollen ihr Leben in Freiheit gestalten und sich weder vom Papst noch vom Staat hineinreden lassen. Die Vorstellung, am Ende des Lebens dem Körper, den Schmerzen und irgendwelchen Ärzten hilflos ausgeliefert zu sein, ist für viele unerträglich. Sterben und Tod sind zur letzten und wahrscheinlich größten Herausforderung für den selbstbestimmten Menschen geworden. Der Tod macht alle Inszenierungen zunichte, setzt jeder Selbstdarstellung ein Ende. Er erscheint als ultimative Kränkung, als finale Niederlage.

Gleichzeitig wachsen die Möglichkeiten, Leben zu verlängern oder still und leise zu verkürzen. Mediziner können die physiologischen Abläufe am Ende des Lebens genau bestimmen, sie wissen, was im Gehirn passiert, welche Synapsen sich wann und wo nicht mehr verschalten. Sterben ist dadurch nicht einfacher geworden. Es müssen immer mehr Entscheidungen getroffen werden. Schon alleine den Zeitpunkt des Todes anzugeben, ist eine komplizierte Sache. Welcher Tod ist gemeint? Der Hirntod? Der Herzstillstand? Wir sterben, wie wir leben: in einer hochkomplexen, technik- und wissenschaftsgläubigen Leistungsgesellschaft, in der jede Handlung auf ihre Nützlichkeit hin geprüft wird, und getrieben von dem Versuch, auch noch den Tod zu optimieren, zu bürokratisieren und zu verrechtlichen.

Kommenden Donnerstag will der Bundestag über einen „Gesetzentwurf zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung von Selbsttötung“ diskutieren. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat ihn erarbeitet, um zu verhindern, dass mit dem Wunsch eines Menschen, zu sterben, Geld verdient wird. Wenn mit dem Tod Geschäfte gemacht werden, womöglich für den Selbstmord mit Anzeigen im Internet geworben wird, könnte das Menschen überhaupt erst auf den Gedanken bringen, dem Leben ein Ende zu setzen, sagt die Ministerin. Das Gesetz ist gut gemeint. Doch wo beginnt die „Gewerbsmäßigkeit“? Was ist mit einem Sterbehilfeverein, der von Mitgliedsbeiträgen lebt, aber denjenigen, die aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen wollen, den eingezahlten Betrag zurückgibt?

Für Verwandte und Freunde will das Gesetz „strafaussetzende Umstände“ schaffen, wenn sie in höchster Gewissensnot einem Todkranken den letzten Wunsch erfüllen wollen und Kontakt zu einer gewerblichen Sterbehilfeorganisation herstellen. Damit aber werden Verhaltensweisen kriminalisiert, von denen die Gemeinschaft doch gerade lebt: dass Menschen bis zum Ende füreinander da sind und Verantwortung übernehmen. Auf dem rechtlichen Weg alleine lassen sich die Probleme nicht lösen, die der Tod einer individualisierten Gesellschaft aufgibt. Die Patientenverfügung zeigt, wie ein Gesetz das Gegenteil des Gutgemeinten bewirken kann.

Das Rechtsinstitut der Patientenverfügung wurde 2009 vom Bundestag verabschiedet, um Menschen auch dann ihren Willen zu erfüllen, wenn sie sich selbst nicht mehr äußern können. Die Verfügung sollte ein Angebot sein. Doch aus der Option ist gesellschaftlicher Druck erwachsen. Schon fragen sich Bürger: Geht es eigentlich noch ohne Patientenverfügung? Kann ich nicht einfach so sterben? Ein ähnlicher Druck dürfte entstehen, wenn die Krankenkassen künftig regelmäßig bei ihren Versicherten nach der Organspende fragen. In anderen europäischen Ländern werden die Organe automatisch entnommen, wenn man vorher nicht ausdrücklich widersprochen hat. So weit ist es in Deutschland nicht. Hier muss keiner eine Patientenverfügung ausfüllen, es muss auch keiner seine Niere oder sein Herz hergeben, wenn er nicht will. Doch es geht um das gesellschaftliche Klima, und das verändert sich, schleichend.

Ärzte wie Klaus Kobert vom Evangelischen Krankenhaus in Bielefeld berichten von einem Paradigmenwechsel: Immer häufiger würden Kranke und vor allem ihre Angehörigen nach den Möglichkeiten für Sterbehilfe fragen, meistens direkt, nachdem eine tödliche Krankheit diagnostiziert wurde. Seit etwa einem Jahr würden auch immer mehr Angehörige mit der Patientenverfügung winken und verlangen, dass die Behandlung abgebrochen wird – auch wenn der Kranke gar nicht leidet, etwa weil die Schmerzen mit Medikamenten unterdrückt werden. Immer schneller sei jetzt das Argument zu hören, dass das doch kein lebenswertes Leben mehr sei.

Hier verschiebt sich unter dem argumentativen Deckmantel von Freiheit, Menschenrechten und Selbstbestimmung der Fokus. Es geht nicht mehr um die Frage, wie ich die letzte Lebensphase gestalten kann, sondern: Wie komme ich am schnellsten zu Tode? Hier wird ein Begriff von Freiheit und Autonomie so weit auf die Spitze getrieben, bis er zum Zwang wird, zum Druck, sich einer bestimmten Richtung anzupassen.

Aber genau das darf es in diesem intimen Bereich nicht geben. Jeder Mensch lebt anders, jeder stirbt auch anders. Jeder empfindet Schmerzen anders, und jeder leidet auf seine ganz eigene Art und Weise. Jeder verabschiedet sich von der Welt mit anderen Erinnerungen und anderen Hoffnungen. Gläubige Christen scheiden anders aus dem Leben als Atheisten, fromme Muslime anders als Hindus oder Buddhisten.

Deshalb muss jeder selbst entscheiden dürfen, wie er die letzte Kurve des Lebens nimmt. Echte Autonomie gerade in einer individualisierten und pluralen Gesellschaft bedeutet, dafür jedem den Freiraum und die Zeit zu geben, die er braucht – unabhängig von öffentlichen Meinungen und religiösen Werturteilen, unabhängig auch von finanziellen Vorgaben.

Im Sommer förderte eine Emnid-Umfrage im Auftrag der „Bild am Sonntag“ zutage, dass 49 Prozent der Deutschen gewerbliche Sterbehilfe nicht verkehrt finden. Wenn Menschen gezielt in den Tod gehen wollen und dabei die Hilfe von anderen in Anspruch nehmen, kann man das nicht unterbinden, vermutlich wird man es auch nicht auf Dauer verbieten können. Es gibt auch gute Gründe dafür. Denn nicht bei jedem lassen sich Schmerzen durch Morphine oder andere Narkotika lindern. Und wer möchte einen anderen Menschen zu unerträglichem Leiden zwingen? Auch das muss eine freiheitliche, individualisierte Gesellschaft wahrscheinlich aushalten.

Viele Menschen wissen allerdings gar nicht, welche Möglichkeiten es für sie gibt – mit ihrer Geschichte, ihrer spezifischen Krankheit und den ganz eigenen körperlichen und seelischen Voraussetzungen. Man muss sie beraten und informieren. Das geschieht noch viel zu wenig, Ärzte haben keine Zeit, Pfleger scheuen sich, die Kostenpauschalen sehen es nicht unbedingt vor. Die Erfahrung zeigt: Wenn Menschen erfahren, dass man ihr Elend lindern kann, haben es viele dann doch nicht mehr so eilig mit der Sterbehilfe.

Mittlerweile bieten zum Glück nicht mehr nur Sterbehospize Palliativmedizin an. Immer mehr Krankenhäuser verpflichten sich dazu, seit fünf Jahren haben gesetzlich Krankenversicherte einen Rechtsanspruch auf mobile Palliativpflege zu Hause. Die Chancen steigen, dass sich in Zukunft mehr und mehr Behandlungen auch am Ende des Lebens an der Lebensqualität orientieren, daran, wie es dem Patienten geht und was er sich wünscht, und wie man sein Leiden mildern kann. Um den Preis, dass der Tod dann schnell kommt.

Jeder ist gefragt, wenn Angehörige und Freunde den letzten Weg antreten. Da sein, zuhören, sich informieren. Bestenfalls sind die Menschen da, die dem Kranken sowieso nahestehen. Wenn nicht, müssen Ärzte, Pfleger, Seelsorger einspringen. Niemand sollte einsam und verlassen sterben müssen. Da wartet eine große Aufgabe auch für die Kirchen. In Zukunft wird es mehr noch als heute darum gehen, für Ältere, Kranke und Sterbende da zu sein, ohne ihnen gleich mit Gott zu kommen, sie zu begleiten, zuzuhören und sie gehen zu lassen, wenn sie das wollen.

„Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, heißt es in der Bibel in Psalm 90. Menschen unterscheiden sich von allen anderen Kreaturen dadurch, dass sie wissen, dass sie sterben müssen. Und doch weiß keiner, wie sich dieser Tod anfühlt, was er wirklich ist. Das ist der ungeheuerliche Widerspruch, das ist die existenzielle Unsicherheit, mit der alle Menschen leben müssen. Wir werden sie nicht ausräumen, wenn wir versuchen, alles zu kontrollieren, zu planen und zu organisieren. Aber vielleicht hilft ja eine Prise Demut, mehr Gelassenheit und die Fähigkeit, Vertrautes loszulassen. Loslassen ist wohl das Schwierigste in unserer Leistungsgesellschaft. Wir sollten es trotzdem üben. Denn Loslassen hilft nicht nur beim Abschied von der Welt, es hilft auch mitten im Leben.

Eine der wunderbarsten und auch trostreichsten Beschreibungen einer letzten Fahrt ins Offene stammt von Harold Brodkey. Der amerikanische Schriftsteller hat sein Sterben vor zwölf Jahren mit äußerster Präzision protokolliert. Auf der letzten Seite schreibt er: „Ich stehe auf einem frei dahin treibenden Floß, einem Kahn, der sich auf der biegsamen, fließenden Oberfläche eines Stroms bewegt. Eine unsichere Situation. Ich weiß nicht, was ich da tue. Die Unwissenheit, die angespannte Balance, die abrupten Stöße und die Instabilität breiten sich in kleinen, immer weitere Kreise schlagenden Wellen über all meinen Gedanken aus. Frieden? Den hat es auf der Welt niemals gegeben. Doch aus dem geschmeidigen Wasser, unter dem Himmel, unverankert, reise ich nun dahin und höre mich lachen, zuerst vor Nervosität und dann von echtem Staunen. Ich bin davon umgeben.“

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