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Meinung: Trialog: Ich kann mich nicht missionieren

Ob neben der DDR-Nostalgie sich etwa nun auch eine Alte-Bundesrepublik-Nostalgie regt, hatte ich gefragt. Antje Vollmer hat das entschieden verneint - verbunden mit einem großen Lob auf die Realpolitik Westdeutschlands, die nichtmilitärische, vorsichtige, weltoffene, selbstkritische Rolle, die dem deutschen Namen wieder Ansehen in der Welt verschafft hat.

Ob neben der DDR-Nostalgie sich etwa nun auch eine Alte-Bundesrepublik-Nostalgie regt, hatte ich gefragt. Antje Vollmer hat das entschieden verneint - verbunden mit einem großen Lob auf die Realpolitik Westdeutschlands, die nichtmilitärische, vorsichtige, weltoffene, selbstkritische Rolle, die dem deutschen Namen wieder Ansehen in der Welt verschafft hat. - Nicht-militärisch ist falsch: Die Bundeswehr stellte die typische und unvermeidliche militärische Option der Blockkonfrontation dar. Ansonsten aber gebe ich ihr Recht. Die westliche Entspannungspolitik, die allerdings nur mit jener militärischen Option möglich war, hat schließlich das Ende der DDR ermöglicht. Und der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik war ja auch Ausdruck der Bewunderung für den besseren deutschen Staat.

Trotzdem haben sich auch westlich der Mauer Marotten gebildet. Antje Vollmer wünscht sich, dass wir "endlich einmal wegkommen von der Methode der ständigen Selbstmissionierung in Sekundärtugenden." Missionierung heißt: jemanden von dem zu überzeugen versuchen, von dem man überzeugt ist. Selbstmissionierung heißt dann: sich von etwas überzeugen, wovon man überzeugt ist. Kriege ich einfach nicht hin.

Und "Sekundärtugenden" - was ist denn das? Kein Lexikon führt das Stichwort. Aus mündlicher Überlieferung habe ich erfahren, dass es sich um eine Vatermördervokabel handelt. Oskar Lafontaine (SPD) habe seinerzeit Helmut Schmidt (SPD) vorgeworfen, er verfüge über diejenigen Sekundärtugenden, mit denen man auch ein KZ leiten könne. "Der eigenen Gewaltgeschichte immer bewusst", lobt Antje Vollmer an der alten Bundesrepublik. In diesem Falle aber in exzessiv brutaler Manier.

Ein findiger Student hat mir schließlich Lafontaines Quelle aufgespürt. Carl Amery hat das Wort 1963 in die Welt gesetzt. Seine Beispiele: "Ehrlichkeit - Pünktlichkeit - Zuverlässigkeit im Dienst - Arbeitsamkeit" und Obrigkeitsgehorsam. "Tugenden also, die keine Ziele in sich enthalten." "Ich kann mir die Hände nach einem rechtschaffenen Arbeitstag im Kornfeld oder im KZ-Krematorium waschen." Amery konfrontiert sie mit den christlichen Primärtugenden Gläubigkeit, Demut, Liebe, Askese. Das ist inzwischen vergessen. Der Ausdruck dient heute zumeist der Diskreditierung der Tugenden überhaupt. Manche, nicht Antje Vollmer, machen im Umkehrschluss Unordnung, Unsauberkeit, Faulheit und Aufsässigkeit zu antifaschistischen Tugenden. Die würden sich wundern, wie wirkungslos dergleichen in einer Diktatur ist.

Die Vorgeschichte dieser "Sekundärtugenden" ist bekannt. Sie entstammen der Aufklärung und hießen damals ökonomische oder bürgerliche Tugenden. Sparsamkeit und Fleiß gehören noch dazu. Pestalozzi, Basedow und andere loben sie, nicht als die eigentlichen Tugenden. Sondern: Die Ordnung der persönlichen Verhältnisse sei die Voraussetzung für ein sittliches Verhalten des Einzelnen und deshalb auch der Gesellschaft. Und der Obrigkeitsgehorsam meinte damals das Verbot der Selbstjustiz, den Rechtsgehorsam, mit plastischen Erinnerungen an die Zeit des Fehde-Unwesens. Nach wie vor fordern wir von all unseren Dienstleistern diese Sekundärtugenden, um sie danach im Diskurs zu schmähen. Ein bisschen verrückt - oder? Nachdem ich das alles begriffen habe, begreife ich gar nicht mehr, wovor die "Selbstmissionierung in Sekundärtugenden" uns warnen will.

Richard Schröder ist Professor für Theol

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