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Meinung: Ungezügelt im Grünen

Pascale Hugues, Le Point

Die Deutschen sind diszipliniert. Sie lieben das eherne Korsett ihrer Regeln und die Sicherheitsmarkierung der Verbote. Die Franzosen sind Genießer. Sie genießen ihr Leben ohne Zwänge. Die hartnäckigsten Klischees über die Seele der Völker zerbröseln, wenn man den Fuß in einen öffentlichen Park setzt. In jenen aus der dicht besiedelten Stadt geschnittenen Vierecken der Natur entlarven sich die Nationen. In den Blumenbeeten zeigen sie ihr wahres Temperament, das hinter der soliden Fassade hergebrachter Vorurteile verborgen liegt.

Die französischen Parks sind genau das Gegenteil von ungezügelter Fantasie. Sie sind strikten geometrischen Gesetzen unterworfen und gehorchen einem strengen Code. Nehmen Sie zum Beispiel den „Jardin du Luxembourg“ – ein Hafen der Harmonie und der Süße des Lebens im pulsierenden Herzen von Paris.

Aber man sollte sich nicht täuschen lassen von der Stille der Platanen-Alleen, dem Charme der Schilderhäuser, den geschwungenen Linien der Bassins! Hier wird die Natur diszipliniert von der unbarmherzigen Schere der Gärtner, und die Spaziergänger werden mit Pfiffen der Gendarmen mit Käppi zur Ordnung angehalten. Der Weg ist von Verboten gesäumt: Es ist verboten, den Garten außerhalb der Öffnungszeiten zu betreten. Es ist verboten, Fußball zu spielen. Verboten zu picknicken, selbst verboten, sich auf den Rasen zu setzen oder ihn auf Zehenspitzen zu betreten. Verboten, einen Bumerang zu benutzen oder einen Baseballschläger. Verboten, Boules oder Schach außerhalb der dafür vorgesehenen Zonen zu spielen. Die kleinen bleichen Pariser balancieren für 1 Euro 40 zehn Minuten lang auf schönen alten Wippen, die langweilig sind wie Museumsstücke. Das Reglement, das in einer Vitrine am Eingang aufgehängt ist, lässt keinerlei Spielraum: Die Öffentlichkeit sollte eine dezente Haltung bewahren und ein Verhalten, dass im Einklang steht mit den guten Sitten und der öffentlichen Ordnung.

Sein Hemd auszuziehen, um sich zu bräunen, steht außer Frage. Genauso wenig wie eine zu leidenschaftliche Umarmung auf einer der Parkbänke. Marie, Clémence, Jeanne, Marguerite: Die Königinnen Frankreichs regieren wie Despoten in weißem Marmor über die Beete mit seltenen Blumen. Und der mit der Tricolore bekränzte Senat am Ende des Parks lässt nicht einmal den kleinsten Streich zu.

Wenn es ein ähnliches Reglement in Berlin gäbe, müsste der Volkspark mit Waffengewalt evakuiert werden. In Berlin gehört der öffentliche Park – wie sein Name sagt – dem Fußvolk der Metropole. Der Volkspark ist eine anarchische Enklave, eine Zone ungezügelter Freiheit, wo alles erlaubt ist. Ein Nomadencamp mitten auf dem Rasen zu errichten, mit Campingtisch, Grill, Liegen und Decken. Trommel zu spielen, das Gras mit spitzen Absätzen zu perforieren und die Alleewege mit seinem Roller zu schneiden.

Im öffentlichen Park in Deutschland ist man in Symbiose mit der Natur: Man rekelt sich nackt wie eine Eidechse an der Sonne. Die Hunde rennen in aller Freiheit. Die Kinder sind die Wilden dieses ursprünglichen Paradieses: Sie pinkeln in die Büsche, sie baden nackt in den Fontänen, klettern auf Bäume, erklimmen Geländer, graben die Blumen aus den Beeten und füttern die Tauben.

Der Volkspark ist der Ort jeglicher Regressionen. Das kleine Toilettenhäuschen wurde zu einem Café umgebaut. Die altgoldene Hirschstatue wacht tolerant über die Unordnung der rot-gelben Blumenbeete. So sehr, dass man am Ende einiger Spazierstunden fast so weit ist, die Klischees umzukehren: Die Deutschen? Ein aufmüpfiges und fantasievolles Volk? Und Frankreich? Eine verkrampfte und puritanistische Nation, die manisch ordnungsverliebt ist?

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