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Meinung: Unser tägliches Gift

Die Gefährlichkeit von Acrylamid wird überschätzt

Von Alexander S. Kekulé

WAS WISSEN SCHAFFT

Seit schwedische Forscher im vergangenen Frühjahr Acrylamid in Lebensmitteln entdeckt haben, erscheinen fast wöchentlich neue Horrormeldungen: Nicht nur Pommes frites und Kartoffelchips, sondern auch Cornflakes, Kaffee und sogar Biobrot enthalten das angebliche Krebsgift, das obendrein in die Muttermilch übergehen soll – stehen wir also mitten in einem neuen Lebensmittelskandal?

Vergangenen Monat veröffentlichte Untersuchungen haben jetzt zumindest in einer Hinsicht Entwarnung gegeben: Das Acrylamid wurde, im Gegensatz zu Nitrofen, Hormonen und dem BSEErreger, nicht aus Gewinnsucht in die Nahrung gemischt. Es stammt auch nicht, wie zunächst vermutet, aus Plastiktüten oder kunststoffhaltigen Pappschachteln. Schuld am Acrylamid in der Nahrung ist vielmehr eine Eigenart des menschlichen Geschmacks, die so alt ist wie die Erfindung des Feuers: Die Lust auf knusprig Gebratenes, Gegrilltes und Frittiertes. Bei hoher Temperatur reagiert die Aminosäure Asparagin (ein Baustein aller Eiweiße) mit Zuckern in der sogenannten „Maillard-Reaktion“ zu Acrylamid. Besonders gut funktioniert das in Kartoffeln, da diese viel ungebundenes Asparagin und Zucker in Form von Stärke enthalten. Die Maillard-Reaktion ist schon lange als chemische Grundlage so mancher Küchengeheimnisse bekannt: Sie lässt einen Großteil der Geschmacksstoffe entstehen, die etwa geröstete Maronen, getoastetes Brot und frittierte Kartoffeln so lecker machen. Sicher ist also, dass der Mensch mit Acrylamid in der Nahrung lebt, seit er zum ersten Mal eine Kartoffel ins Feuer geworfen und gegessen hat.

Warum also die Beunruhigung der Fachleute? Acrylamid ist ein alter Bekannter der Toxikologen. Bei der Herstellung des Kunststoffes Polyacrylamid und beim Verarbeiten von Dichtungsmitteln kamen Arbeiter jahrzehntelang mit großen Mengen der Chemikalie in Berührung. Vor allem wegen seiner – in hoher Dosis – nervenschädigenden Wirkung gilt Acrylamid in Chemiefabriken als Teufelszeug. Die krebsauslösende Wirkung beim Menschen ist dagegen nicht bewiesen: Zwar bekamen Ratten nach Verabreichung sehr großer Mengen Acrylamid bösartige Tumore. Doch liegt die hier mindestens erforderliche Dosis etwa 1000fach höher als die für Menschen berechnete Aufnahme durch die Nahrung. Mehrere repräsentative Studien an erheblich belasteten Chemiearbeitern aus der Acrylamid-Produktion ergaben kein erhöhtes Krebsrisiko.

Trotzdem ist die jetzt vom Verbraucherschutzministerium angestrebte Reduzierung von Acrylamid sinnvoll. Wenn man die bei Ratten wirksame Dosis auf den Acrylamid-Gehalt von besonders belasteten Kartoffelchips umrechnet, ergeben sich bei lebenslanger täglicher Aufnahme etwa 100 Krebserkrankungen pro 1 Million Einwohner – das entspräche etwa zwei Prozent aller bösartigen Tumore. Acrylamid ganz aus der Nahrung zu verbannen, ist jedoch praktisch unmöglich und geschmacklich unzumutbar. Chips und Pommes zu reduzieren, ist dagegen in jedem Fall ein guter Rat: Von einer Million Deutschen sterben jedes Jahr rund 60.000 an den Folgen von Übergewicht.

Der Autor ist Direktor des Instituts für medizinische Mikrobiologie an der Universität Halle-Wittenberg. Foto: J. Peyer

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