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Meinung: Viele Pole, eine Realität

Vor dem G-8-Gipfel: Jetzt ist die Stunde der Staatskunst

Von Hans-Dietrich Genscher Die deutsche EU-Präsidentschaft findet außergewöhnliche Beachtung. Nicht nur wegen des gleichzeitigen Vorsitzes bei den G 8, vielmehr haben Bundeskanzlerin und Außenminister der deutschen Außenpolitik neues Gewicht gegeben und neues Vertrauen erworben. Weltweit wachsen die Erwartungen in die Handlungsfähigkeit der EU.

Auf der anderen Seite haben Gewicht und Einfluss der amerikanischen Außenpolitik an Boden verloren, wie das nach dem Zweiten Weltkrieg nie der Fall war. Für Europa als engstem Partner der USA ist das Anlass zu Sorge und zu verantwortlichem Handeln. Denn die europäisch-amerikanische Partnerschaft ist konstitutiv – für die transatlantischen Beziehungen, als auch für die globale Stabilität.

Deshalb ist die Schwächung des transatlantischen Bündnisses durch sogenannte Allianzen der Willigen oder durch bilaterale Vereinbarungen Washingtons mit einzelnen Nato-Partnern so bedenklich. Hier ist es bedeutsam, dass die Bundeskanzlerin der europäischen und der deutschen Stimme in Washington neues Gewicht gegeben hat – damit die bewährte Zusammenarbeit im Bündnis künftige Alleingänge verhindert.

Bei dem G-8-Gipfel sollte man sich der multipolaren Realität der neuen Weltordnung stellen. Das verlangt die Mitwirkung so großer Staaten wie China, Indien und Brasilien und so wichtiger Regionen wie Afrika, die arabische Welt und Asean. Besorgt indes macht die Entwicklung des Verhältnisses zu Russland. Nur noch wenig ist zu spüren von dem Neubeginn der Gorbatschow-Ära. Stichworte wie neuer kalter Krieg werden lustvoll belebt. „Wir sind nicht mehr Gegner“, haben sich 1990 Nato und Warschauer Pakt gegenseitig versichert – das war von beiden Seiten aufrichtig gemeint. Den Warschauer Pakt gibt es nicht mehr und die Sowjetunion auch nicht, aber der Wille zur Zusammenarbeit wird auch in Zukunft gebraucht. Zur Nato sind neue Mitglieder hinzugekommen. In Moskau wird das anders wahrgenommen als im Westen – das verlangt Augenmaß, auch im Westen.

Politische Auseinandersetzungen kann man beenden, Emotionen bekommen ihre Eigendynamik. Jetzt ist die Stunde der Staatskunst, der Verantwortung und der Besonnenheit. Außenminister Steinmeier hat neue Abrüstungsbemühungen verlangt. Die Kündigung von Abrüstungsverträgen, wie des ABM-Vertrages, passt schlecht in dieses Bild. Eine Ausweitung der Atomwaffenbesitzer ließe sich leichter verhindern, wenn die Atommächte ihre eigenen Abrüstungsverpflichtungen endlich erfüllen würden. Der KSE-Vertrag soll der Stabilität in Europa dienen. Die Hinausschiebung seiner Ratifizierung kann deshalb kein Mittel einer auf Stabilität gerichteten Politik sein.

Die EU und Russland müssen sich bewusst sein, dass sie einander brauchen. Sie können sich gegenseitig sehr viel geben, und ihr Zusammenwirken ist unverzichtbar für die Lösung der globalen Probleme: Klimaprobleme, globale Energiesicherheit, eine überall als gerecht empfundene neue Weltordnung, aber auch die Verhinderung eines neuen nuklearen Rüstungswettlaufs. Das alles und die Lösung des Nahostkonflikts, sowie die Verhinderung der Ausbreitung von Atomwaffen und anderen Massenvernichtungsmitteln erfordern die Zusammenarbeit Amerikas und der EU mit Russland. Gemeinsamen Bedrohungen – der internationale Terrorismus gehört dazu – kann man nur gemeinsam entgegentreten.

Gegenseitige Schuldzuweisungen helfen nicht weiter, aber sie vergiften das Klima. Die Bundeskanzlerin hat längst das Gewicht und das Vertrauen, das in dieser Lage gebraucht wird – als Stimme der Verantwortung und der Besonnenheit. Ihr jüngster Hinweis auf die Bedeutung des Verhältnisses zu Russland zeigt, dass sie sich dessen bewusst ist.

Innerhalb der EU hat sie mit ihrem Besuch in Warschau ein neues Kapitel aufgeschlagen. Auch erste Signale aus Paris berechtigen zu neuer Zuversicht für die EU. Staatskunst, Verantwortung und Besonnenheit eröffnen mit der deutschen Präsidentschaft der EU eine neue Chance – vor uns liegen zwei außenpolitisch wichtige Monate.

Der Autor war von 1974 bis 1992 Bundesaußenminister.

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