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Meinung: Vorbei, kein dummes Wort

Die Vergangenheit darf den europäischen Einigungsprozess nicht lähmen

Es ist ein Zeichen zunehmender Normalisierung, wenn historische Prozesse sich vollziehen, und man kaum etwas davon bemerkt. Die Zustimmung erst des Bundestages, dann des Bundesrates zum EU-Beitritt von acht osteuropäischen Staaten – neben Malta und Zypern – in der ersten Juli-Hälfte ist ein solcher Vorgang. Sie ist von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen worden, und ist doch ein großes Datum. Zu Recht hat Außenminister Fischer sie den entscheidenden Schritt zur Wiedervereinigung Europas genannt. Er konnte dabei auf Wolfgang Schäuble Bezug nehmen, der die Formel von der Ost-Erweiterung der EU sprach- und sachkritisch präzisierte: Europa erweitere sich nicht, sondern überwinde seine Teilung. Denn, sagt Schäuble, „die neuen Mitglieder in der Europäischen Union werden nicht erst jetzt Europäer, sie sind es immer gewesen“.

Der Ratifizierungsakt, weitgehend einstimmig vollzogen, verbirgt allerdings, dass auch diese Übereinstimmung die Kontroversen keineswegs hat ausräumen können, die seit Jahr und Tag die Politik gegenüber den Ländern, also Tschechien und Polen, bestimmen, aus denen die Deutschen vertrieben worden sind. Mit einem Entschließungsantrag hat die Union die Bundesregierung aufgefordert, mit Tschechien über die Aufhebung der Benes-Dekrete zu verhandeln. Denn mit der Europäischen Union als Rechts- und Wertegemeinschaft vertrage sich – so Wolfgang Schäuble vor dem Bundestag – das „Fortbestehen von Dekreten, die als Rechtfertigung für Tötungen, Vertreibungen und Entrechtungen gedient haben“ nicht.

Dass die schlesische Landsmannschaft bei ihrem Jahrestreffen am Wochenende die Abschaffung alter polnischer Vertreibungsdekrete gefordert hat, muss also nicht verwundern – genauso wenig wie die Streitigkeiten, die sich eben erst an einer „humanitären Geste“ entzündet haben, die die Bundesregierung für besonders schwer geschädigte Sudetendeutsche ins Gespräch gebracht hatte. Aber betroffen machen dürfen beide Vorgänge doch. Denn die Entschiedenheit, mit der die Konfliktzonen im gegenseitigen Verhältnis abermals aktualisiert werden, nimmt der Gemeinsamkeit, die der Beitritt auf die Tagesordnung gesetzt hat, die Überzeugungskraft. Es zeigt, wie unsicher und vergangenheits-kontaminiert der Boden noch immer ist, auf dem das neue Europa stehen soll.

Es verstimmt mehr die Tonlage, in der gefordert wird, als die Forderungen selbst. Sie erweckt in ihrer Unnachsichtigkeit den Eindruck, als sollten nun, da die europäische Wiedervereinigung auf dem Wege ist, doch noch Positionen festgeklopft werden, die sich in der Auseinandersetzung der letzten Jahre, ja, Jahrzehnte immer wieder als kontraproduktiv erwiesen haben. Es ist hart, es auszusprechen, aber leider wahr: Wäre es nach der offiziellen Politik der Vertriebenenverbände gegangen, wären wir jedenfalls heute nicht dort, wo wir – zu aller Befriedigung – heute sind.

Ob und was an den Dekreten aus den dunklen Kriegs- und Nachkriegsjahren noch aufzuheben ist – und mit welchen Konsequenzen –, mag die Auswärtigen Ämter und – wenn es denn nicht anders geht – die Gerichte beschäftigen. Es kann für Gegenwart und Zukunft politisch allenfalls einen marginalen Stellenwert haben. Vergangenheit darf nicht tabuisiert werden. Aber die Politik darf sich von ihr auch nicht lähmen lassen.

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