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Was Wissen schafft: Schlafende Bestien

Die Gefahr durch Vulkanausbrüche wird unterschätzt. Ein Ausbruch der Yellowstone-Caldera könnte verheerende Folgen haben.

Mit einem schlafenden Löwen im Käfig zu sitzen, dürfte ziemlich nervenaufreibend sein. Jede Bewegung einer Pranke, jedes Zucken der Muskulatur und jede Veränderung des Atemgeräusches kann das Erwachen der Bestie und den Tod ankündigen.

So in etwa fühlen sich die Wissenschaftler im amerikanischen Yellowstone-Nationalpark, die seit Jahrzehnten den gefährlichsten Vulkan der Welt bewachen. Sie beobachten argwöhnisch die Aktivität der über 3000 Geysire, die hier scheinbar friedlich vor sich hin dampfen. Ein Netz von Seismografen und GPS-gesteuerten Messgeräten registriert jedes Zittern und jede Verschiebung des Erdbodens. Tage bis Monate vor einem Vulkanausbruch beginnt die Erde nicht nur zu beben, sondern setzt auch vermehrt Hitze und saure Gase frei. Deshalb messen Geochemiker kontinuierlich Zusammensetzung und Temperatur der Luft und der Flüsse.

Die Besucher des Yellowstone-Nationalparks bewundern den Grand Canyon, die spektakulären Fontänen der Geysire und die haushohen Felsen aus schwarzem Vulkanglas – den größten aktiven Vulkan der Erde jedoch sehen sie nicht. Yellowstone ist nämlich kein bergförmiger „Vulkan“ im engeren Sinne, sondern eine „Caldera“: ein flacher Kraterkessel, der bei der Explosion einer sehr großen Magmakammer entsteht. Wegen ihrer gigantischen Ausmaße und ihrer Lage mitten in den Rocky Mountains wurde die 85 Kilometer lange und 45 Kilometer breite Yellowstone-Caldera lange nicht erkannt – erst in den 70er Jahren konnte man den Krater mithilfe von Satellitenaufnahmen genau vermessen.

Im Gegensatz zu den anderen, mit Wasser gefüllten Calderen der Erde, wie dem Tobasee auf Sumatra und dem Tauposee in Neuseeland, ist die Yellowstone-Caldera nach wie vor aktiv: Etwa 80 Kilometer unter dem Naturpark wabert eine riesige Blase von rund 1500 Grad heißem, mehr oder minder flüssigem Gestein. Diese Magmakammer liegt über einem „Hotspot“ der Erdoberfläche, wo flüssiges Gestein aus dem darunter liegenden Erdmantel nach oben quillt.

Durch die in der Tiefe wabernde Gesteinsblase bewegt sich der Boden der Yellowstone-Caldera langsam auf und ab. Geologen wissen, dass das friedliche Atmen schlafender Vulkane vor einem Ausbruch in eine kontinuierliche, schnelle Aufwärtsbewegung übergeht. Deshalb wird die Bewegung des Grundes der Yellowstone-Caldera akribisch überwacht. Die aktuellen Messdaten sind nicht gerade beruhigend: Vergangene Woche berichtete das „Yellowstone Volcano Observatory“, dass sich die seit 1923 konstante Aufwärtsbewegung des Kratergrundes während der letzten drei Jahre verdreifacht hat, von zwei auf sieben Zentimeter jährlich. Der Yellowstone-Hotspot verursachte bisher drei große Ausbrüche im Abstand von 600 000 bis 700 000 Jahren, der letzte ist 640 000 Jahre her. Rein statistisch könnte es also wieder so weit sein.

Bei einer solchen Eruption würden etwa 250 Kubikkilometer Asche in die Atmosphäre geschleudert, zehntausendmal so viel wie bei den spektakulären Ausbrüchen des Mount Helen (1980) und Pinatubo (1991). Die freigesetzte Energie entspricht 1000 explodierenden Hiroshima-Bomben – pro Sekunde. Die kürzlich berechneten Folgen wären verheerend: Im Umkreis von 1000 Kilometern sterben 90 Prozent der Menschen. Sogar die weit entfernte Ostküste der USA ist noch mit einem Zentimeter Asche bedeckt. Nach drei Tagen kommt der Staub in der Stratosphäre über Europa an, der Himmel ist monatelang grau wie an einem trüben Wintertag. Die Atmosphäre kühlt für mehrere Jahre um fünf bis zehn Grad ab, in Asien bleibt der Monsun aus. Durch die Explosion, Asche und Ernteausfälle sterben bis zu einer Milliarde Menschen.

Die aktuelle Hebung des Kratergrundes wird allerdings nicht von Erdbeben oder anderen Warnsignalen begleitet – wie es aussieht, seufzt der Löwe nur im Schlaf. Dass für einen großen Vulkanausbruch weltweit keine Katastrophenpläne existieren, ist trotzdem sträflich – jede schlafende Bestie wacht irgendwann auf.

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle. Foto: J. Peyer

Alexander S. Kekulé

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