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Was WISSEN schafft: Wie wirksam ist Tamiflu?

Eine Studie erhebt neue, schwere Vorwürfe gegen den Hersteller des Grippemittels. Die Zulassungsbehörden sollten die Belege für den Nutzen noch einmal genau überprüfen.

Tom Jefferson ist ein kampfeslustiger Mann. Sein halbes Berufsleben hat er als Allgemeinarzt Soldaten behandelt. Dann schloss sich der Brite der renommierten „Cochrane-Collaboration“ an, die mit unabhängigen Studien gegen den Aberglauben in der modernen Medizin kämpft. Auf seiner Website nennt er „Meister Sun Tzu“, nach dem berühmten chinesischen Militärstrategen. Wer für Cochrane arbeitet, darf keine Angst vor mächtigen Gegnern haben. Jefferson hat sich seit einem Jahrzehnt auf Influenza spezialisiert – und auf die Pharmakonzerne, die damit Milliarden verdienen. Von seinem kleinen Büro in Rom aus koordiniert er internationale Studien über Impfstoffe und Grippemittel, die es in sich haben.

Jetzt hat der 57-Jährige wieder zugeschlagen: Das Grippemittel Tamiflu, sagt der neueste Cochrane-Report aus seiner Feder, sei gegen Influenza-Pandemien wirkungslos. Doch damit nicht genug: Vermutlich habe das Medikament, das Roche bis vor kurzem über eine Milliarde Dollar Jahresumsatz bescherte, überhaupt keine Wirkung gegen Viren. Die – unbestrittene – Verkürzung der Krankheitsdauer um etwa einen Tag führt Jefferson auf eine Nebenwirkung zurück: Tamiflu wirke dämpfend auf das Immunsystem, deshalb würden die Symptome der Grippe gemildert.

Wirkt das Hightech-Mittel Tamiflu also wie Aspirin, nur schwächer?

Tamiflu ist – ebenso wie das Konkurrenzprodukt Relenza von Glaxo Smith Kline – ein „Neuraminidaseinhibitor“. Unter Laborbedingungen hemmen diese modernen Wirkstoffe die Vermehrung von Influenzaviren, indem sie ein für ihre Ausbreitung essenzielles Enzym – die Neuraminidase – blockieren. Allerdings ist bereits seit der Zulassung der neuen Grippemittel vor zwölf Jahren umstritten, wie viel Nutzen sie bei der Anwendung am Menschen bringen.

Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA untersagte dem Hersteller, damit zu werben, dass das Risiko gefährlicher Komplikationen oder die Virusübertragung verringert werden. Genau darauf käme es jedoch im Pandemiefall an, wenn ein neues Grippevirus zirkuliert, das durch häufige Komplikationen zu Krankenhauseinweisungen und Todesfällen führt.

Jefferson kritisiert seit Jahren, dass Roche seine Zulassungsanträge auf zehn klinische Studien stützte, von denen jedoch acht nie publiziert wurden. Auf Basis der unveröffentlichten Daten erklärte die europäische Arzneimittelagentur EMA, in deutlichem Widerspruch zur amerikanischen FDA, Tamiflu würde die Häufigkeit von Lungenentzündungen und ähnlichen Komplikationen verringern.

Der Aufforderung, der Cochrane-Collaboration die vollständigen Originalstudien vorzulegen, ist Roche nicht nachgekommen. Jefferson und seinen Mitautoren gelang es jedoch, einen Teil der Unterlagen von den Zulassungsbehörden FDA und EMA zu bekommen. Auf eine vorläufige Auswertung dieser Primärdaten stützen sie jetzt ihre kühne Behauptung, Tamiflu verhindere weder Komplikationen noch Weiterverbreitung der Influenza. Stattdessen hemme Tamiflu die Bildung von Antikörpern, wodurch nicht mehr festgestellt werden könne, ob ein Proband eine Influenza durchgemacht habe. Die von Roche für die Zulassungen vorgelegten Studien seien deshalb möglicherweise in Gänze unbrauchbar.

Dass Roche den Wadenbeißer aus Rom nicht in seine Originalunterlagen sehen lassen will, ist nachvollziehbar. Die klinischen Studienberichte müssen nur den Zulassungsbehörden vorgelegt werden und wurden von diesen positiv bewertet. Auch danach gab es zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, die den Nutzen von Tamiflu bestätigt haben.

Trotzdem sollten Jeffersons Spekulationen ernst genommen werden, zumal die Zulassungsbehörden in den USA und Europa zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen. Die Industrieländer müssen demnächst sehr viel Geld ausgeben, um ihre für den Pandemiefall eingelagerten Neuraminidasehemmer zu erneuern. Die Zulassungsbehörden – und nicht die Cochrane-Collaboration – sollten deshalb die Belege für den Nutzen von Tamiflu noch einmal überprüfen. Denn, so erkannte bereits Sun Tzu in seiner „Kunst des Krieges“ im Jahre 500 vor Christus: „Die größte Verwundbarkeit liegt in der Unwissenheit.“

Der Autor ist Mikrobiologe und Direktor des Instituts für Biologische Sicherheitsforschung in Halle. Foto: J. Peyer

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