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Meinung: Wer mit den Wählern heult

Viele in NRW sind unentschlossen – nach Steinbrücks Wahlauftakt erst recht

Viele Wähler zweifeln an der Verlässlichkeit der Politik. Weil die nach Wahlen das Gegenteil von dem tut, was sie vorher versprochen hat. Oder Dinge verspricht, die sie nicht halten kann. Und Politiker zweifeln an der Verlässlichkeit der Wähler. Denn entweder gehen die überhaupt nicht zur Wahl, weil sie glauben, es sei sowieso egal, wem sie ihre Stimme geben. Oder sie verhalten sich wie bei Last-Minute-Reisen und entscheiden im letzten Moment. In Nordrhein-Westfalen kann man gerade beides beobachten.

Am 22. Mai wird im größten deutschen Bundesland ein neuer Landtag gewählt. Es ist eine kleine Bundestagswahl. Ihr Ausgang könnte auch darüber entscheiden, wie die große, die wahre, im Spätsommer 2006 ausgeht. Rot-Grün regiert in Nordrhein-Westfalen, aber Schwarz-Gelb führt in den Umfragen mit einem Vorsprung von zehn Prozent. Das ist uneinholbar. Eigentlich. Aber in sechs Wochen kann sich viel tun. Sechs Wochen vor der letzten Landtagswahl führte Rot-Grün mit 52 Prozent deutlich vor CDU und FDP, die zusammen nur auf 44 Prozent kamen. Am Wahltag blieben für SPD und Grüne noch 49,9 Prozent, gerade mal drei mehr als für das andere Lager. Es kann sich also noch was bewegen. Zum Beispiel, wenn man ein neues Thema findet. Wenn man seine Leute mobilisiert. Wenn die Menschen überhaupt wissen, dass bald gewählt wird.

An all dem hapert es in NRW. Die Hälfte der Wähler ist noch unentschlossen. Und in den bildungsferneren Schichten, wie man eine bestimmte, vermutete SPD-Klientel, die Tatsachen freundlich-umschreibend, nennt, hat sich überhaupt noch nicht herumgesprochen, dass demnächst gewählt wird. Dort wird wenig Zeitung gelesen, und jene Fernsehprogramme, die da beliebt sind, halten sich mit Politik nicht lange auf. Aber einer erreicht auch diese Bürger Nordrhein-Westfalens. Das sind die Meinungsforscher, denen entrinnt keiner.

Die Demoskopen haben etwas herausgefunden, was Ministerpräsident Peer Steinbrück alarmiert – und was auch erklärt, warum er zu einer Fortführung des rot-grünen Bündnisses, das er nie geliebt hat, deutlich auf Distanz geht und warum er laut andere Koalitionen als denkbar erklärt.

Bildungsfernere Schichten, das sind vor allem Menschen, die entweder von Arbeitslosigkeit jetzt schon betroffen sind oder die fürchten müssen, ihre Jobs in der Krise noch zu verlieren. Menschen, die Angst haben, dann als Folge von Hartz IV dem sozialen Abstieg bis auf Sozialhilfeniveau nicht mehr entrinnen zu können. In dieser eigentlich SPD-nahen Gruppe gibt es, sagt die Meinungsforschung, große Aversionen gegen die rot-grüne Koalition. Weil die ganze Krise das grüne Wählerpotenzial und die Partei selbst nicht trifft, weil die Grünen andere, aus Sicht von Arbeitslosen aber völlig nachrangige Prioritäten haben. Besonders viele Frauen sind unter dieser frustrierten Wählergruppe.

Wenn man aber unentschlossene, potenzielle SPD-Wähler dadurch aufrütteln könnte, dass man öffentlich Zweifel an der Fortsetzung dieses Regierungsbündnisses schürt – dann müsste ein sozialdemokratischer Regierungschef genau das tun.

Die Taktik hat, so schlau sie daherkommt, einen faden Beigeschmack – Peer Steinbrücks SPD hat keinen anderen Partner als die Grünen. Wenn die Taktik also funktionierte, wäre sie nur eine neue Täuschung der Wähler.

Gerd Appenzeller

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