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Deutscher Herbst: Wer ohne Schuld ist

Mit der Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer begann vor knapp 30 Jahren der Höhepunkt des RAF-Terrors. Schicksalsfragen standen an in jener Zeit, buchstäblich. Die dringlichste lautete: Wie erpressbar ist der Staat?

Wenige Tage noch, dann jährt sich der Beginn der Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer zum 30. Mal. Dann werden die Bilder wieder hochkommen von der Hochphase des Terrors der RAF. Bilder des Schreckens sind das, die sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben, von jenen 45 Tagen im Herbst 1977, die wenig später schon der Deutsche Herbst genannt werden. Es ist unlängst ein müßiger Streit darüber entstanden, wie, nach den Maßstäben der politischen Korrektheit, rhetorisch sinnvoll dieser Begriff wohl war. Deutscher Herbst: verharmlosend, theatralisch aufgeladen bloß? Oder doch von angemessener Bedeutungsschwere kündend, weil ein Land damals – wenig mehr als 30 Jahre nach seinem totalen Zusammenbruch übrigens – sich abermals in seinen demokratischen Grundfesten erschüttert sah. Ja, es ging um Deutschland, in diesem Herbst.

Schicksalsfragen standen an in jener Zeit, buchstäblich. Die am dringlichsten zu beantwortende aber lautete: Wie erpressbar ist der Staat? In einem in jeder Hinsicht bemerkenswerten Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ hat nun der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt die Beweggründe für sein damaliges Handeln dargelegt. Es galt eine überzeugende Antwort darauf zu geben, und sachdienliche Anweisungen dafür fanden sich seinerzeit weder im Grundgesetz noch in der Bibel, im Koran oder in der Thora, wie Schmidt nun sagt. Das Interview ist ein Dokument von zeitgeschichtlicher Bedeutung, geradezu eine Blaupause für das verantwortungsethische Handeln eines Staates, der sich in einer Extremsituation befindet. Denn die Antwort von damals lautet: Der Staat darf sich nicht erpressbar machen. Es war 1977, im Deutschen Herbst, als diese eherne Regel aufgestellt wurde. Spät erst. Sie gilt noch heute.

Der Staat darf sich nicht erpressbar machen. Wie leicht lässt sich so etwas sagen, und wie schwer ist es, sich an das Gesagte zu halten. Das Undenkbare denken, sich dann aber auf das Machbare beschränken und das Interesse des in seiner Existenz bedrohten Staates über das Interesse des vom Tode bedrohten Individuums zu stellen – das war die Maxime des damaligen Bundeskanzlers. Schmidt, der Atheist, kam in jenen Tagen des Zweifelns zu der fast lutherischen Erkenntnis: Hier stehe ich, ich kann nicht anders.

Es gehört zu der persönlichen Tragik Helmut Schmidts, dass er damit die Ermordung Hanns Martin Schleyers in Kauf nehmen musste. Das hört sich fast an wie die Tragik eines Mannes, der zur falschen Zeit am falschen Ort war. Das Gegenteil aber ist richtig: Kanzler Schmidt war am richtigen Platz, er hat im Interesse des Landes beispielgebend gehandelt.

„Mitschuldig“ am Tod Schleyers sei er, so hat Schmidt es im „Zeit“-Interview benannt, doch es ist eine Schuld, für die von außen Sühne ernsthaft niemand verlangen kann. „Mitschuldig“, wahrscheinlich ist das Ausdruck für die Erkenntnis, wie nah Macht und Ohnmacht bisweilen nebeneinander liegen. Und wahrscheinlich hat der Ex-Kanzler sein verantwortungsethisches Handlungsgerüst mit dieser Erkenntnis sogar noch stabilisiert. So etwas geht nur, wenn die nach außen hin demonstrierte Härte von einer inneren Prinzipienfestigkeit begleitet wird. Zwei Jahre zuvor, nach dem Überfall der RAF auf die deutsche Botschaft in Stockholm, hatten Schmidt und seine Frau Loki im Kanzleramt eine Notiz hinterlegen lassen, dass im Fall einer Entführung für sie keine Sonderrechte gelten dürften. In einem derartigen Fall hätte ein anderer an seiner statt sich „mitschuldig“ machen müssen, um zu dokumentieren, dass der Staat nicht erpressbar ist.

Der Terror hat sich gewandelt. Er kommt heute aus einer anderen Richtung als vor 30 Jahren, lauert an anderen Plätzen. Die Verletzlichkeit moderner Gesellschaften ist nach wie vor enorm. Sie wächst mit der Skrupellosigkeit der Täter. Was das Terror-Handwerk angeht, war die RAF erst der Anfang. Die Lehren von damals aber haben Bestand: Im Kampf gegen den Terror übersteht der Staat auch Ohnmachtsphasen, wenn die Ohnmacht nicht beliebig daherkommt.

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