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Meinung: Wo ist die alte Weihnacht geblieben?

„Bescherung der Biker“ vom 6. Dezember Seit nun schon elf Jahren bin ich Abonnentin.

„Bescherung der Biker“ vom 6. Dezember

Seit nun schon elf Jahren bin ich Abonnentin. Doch was Sie Ihren Lesern und mir geboten haben, übersteigt alles, was mir an geschmackloser Amerikanisierung von allem, was mir in Deutschland gefällt, im Tagesspiegel bisher seit über 20 Jahren begegnet ist. Kann alles wirklich immer nur noch schlimmer werden? Ihre sehr enttäuschte, ja entsetzte französische Leserin.

Michèle Dieter, Trebbin

Man könnte heulen: Statt geheimnisvoller Vorfreude lautes Geplärre von amerikanischen Weihnachtspops, statt aufgeregtem Backen in der Familienküche türmen sich seit August in allen Supermärkten Berge von Plätzchen und Gebäck, das zu Zeiten unserer Omas niemals vor Heiligabend das Licht der Welt erblickt hätte. Advent? Stille Zeit der Vorbereitung auf Weihnachten? Seit November klingeln unüberhörbar die Kassen. Die weihnachtliche Vorfreude wird am Umsatz gemessen. Es treibt einem die Tränen in die Augen, wenn der Nachrichtensprecher betroffen bekannt gibt, der Wochenendumsatz habe den des Vorjahres nur gerade so eben erreicht. Peugeot hat das in der Zeit völlig verfrühte „Merry Christmas“ in diesem Jahr neu gefasst: „Merry business“. Wer hat da noch Fragen? Was ist los in deutschen Landen?

Von dieser Art Weihnachten hat mancher die Nase schon voll, wenn der 1. Advent noch nicht einmal um die Ecke geschaut hat. Auf den Weihnachtsmärkten torkeln glühweintrunkene Möchtegernweihnachtsmänner umher, Scharen von Bussen sind emsig damit beschäftigt, aus aller Herren Länder durstige und kaufstarke Menschen zu diesen Märkten zu karren und die abgefüllten wieder abzutransportieren. Romantische deutsche Weihnacht? Die sieht sicher anders aus. Schon vor Jahren haben Umfragen gezeigt, knapp die Hälfte der Deutschen weiß nicht mehr, was Weihnachten eigentlich gefeiert wird. Dem kann man entgegenhalten: Alle Kirchen zusammen bieten in der Heiligen Nacht den Deutschen nicht genügend Platz für Gottesdienstbesuche. Klar, es gibt sie noch: Christen, die ihr Christsein leben. Das sind die, die sich nicht zum aktuellen Kauf von lila Weihnachtskugeln mit rosa Punkten verlocken lassen, die in diesem Jahr die vorjährigen in Rosa mit lila Punkten ablösen, weil sie so was von out sind. Und es gibt jene, die wenigstens einmal im Jahr emotional und olfaktorisch in ihre kindlichen Refugien abtauchen wollen: Weihrauch für alle.

Es gibt sie noch, die Menschen, die auf die Frage eines Buchautors, „Ist das Christkind die Tochter vom Weihnachtsmann?“, eine Antwort geben können. In diesen Kreisen kann man auch den Nikolaus vom Weihnachtsmann unterscheiden und dort weiß man auch, dass das von Martin Luther erfundene Christkind längst zum Katholizismus konvertiert ist, nachdem es sich von dem aufdringlichen Weihnachtsmann mit seinem hirnlosen Gebrüll „Hohoho“ nicht mehr hat anmachen lassen wollen. Vielleicht weiß man auch in diesen Kreisen noch, dass das Schenken nicht der Hauptzweck des Weihnachtsfestes ist. Dass die Menge der Geschenke nicht so anschwellen darf, dass sie den Blick auf die Krippe verstellen. Dass in dieser Krippe das eigentliche Geschenk der Weihnacht liegt – der Mensch gewordene Gott. Seine Forderung lautet nicht: Verschulde dich bis zum Jüngsten Tag und schenk’ sie alle platt, friss und sauf, bis dir die Wampe platzt. Leise und völlig gelassen meint er: Mach’s wie ich, werde Mensch, das aber ganz. Ein Stückchen dieser Gelassenheit braucht man, wenn man die beiden unterschiedlichen Arten der Weihnacht in unserer Gesellschaft beobachtet: Die einen wollen die tradierte Familienweihnacht mit ihrem reichen Brauchtum bewahren; für sie bilden Festinhalt und Festform eine Gemeinsamkeit. Für die anderen ist Weihnachten das Hochfest des Konsumwahnsinns, bei dem es sich längst ausgeweihnachtet hat, günstigenfalls ist X-mas übrig geblieben: Ein schillerndes Fest mit unverständlichen Brauchinhalten, eine Art Winterkarneval mit einer Prise rührseliger Romantik. Ein Hochfest, das mehr bietet, als sich vom 24. bis zum 26. abfeiern lässt. Darum ist es nur richtig, schon Ende Oktober zu beginnen und dann ab Weihnachten Silvester entgegenzufiebern! Gnadenlose Weihnacht allüberall.

Wer der anderen Fraktion angehört, kann verzweifeln und die Welt nicht mehr verstehen. Diese verlotterte Weihnacht ist die Karikatur ihrer heimeligen Weihnacht. Was soll man tun? Wir leben – zumindest vom Brauchtum her gesehen – in einer spannenden Zeit. Die vierschrötigen Biker als zu Weihnachtsmännern verkleidete Spendensammler unterwegs, zeigen symbolisch auf, wo wir stehen: So richtig wissen wir nicht mehr, wer oder was wir sind oder sein wollen. Aber wir wollen nicht nur unsere Selbstinszenierung. Da war doch auch noch so etwas wie Nächstenliebe. Und dafür kann man was tun. Formen, Inhalte, Ziele, Figuren, Bräuche – alles wirbelt durcheinander. Der frühere Kölner Kardinal Höffner hat es einmal treffend formuliert: Jeder kann machen, was er will. Aber auch dazu ist er nicht verpflichtet. Brauchtum kann man nicht zementieren. Es ist um so lebendiger, je mehr es sich wandelt. Und es wandelt sich zurzeit mächtig. Die einen werden fragen: Welches Brauchtum? Gibt es das noch? Und die anderen versuchen dieses Brauchtum zu sichern, festzuhalten, mit Leben zu erfüllen. Es ist noch nicht ausgemacht, wer gewinnt. Aber dass alles beim Alten bleibt, kann niemand mehr behaupten. Der, den gerne alle mit dem rührigen Satz zitieren, „Man sieht nur mit dem Herzen gut!“, eben Antoine de Saint-Exupéry, hat einmal formuliert: Wir leben nicht von den Dingen, sondern vom Sinn der Dinge. Müssten wir vielleicht darüber einmal kollektiv nachdenken?

— Manfred Becker-Huberti, Honorarprofessor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar und Experte für religiöses Brauchtum

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