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Meinung: Zeit für Gleichheit

Von Jost Müller-Neuhof

Die Schlachten um das Verfassungsrecht sind geschlagen, die Deutschen dürfen wählen und sogar noch am Sonntag wissen, wie sie gewählt haben. So sprach am Mittwoch das Bundesverfassungsgericht. War da was? Da war was: Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik wurde auf dem juristischen Feld um Wahlen so gerungen wie diesmal. Der Streit um die Vertrauensfrage, die heiklen Listenkompositionen von PDS und Linkspartei, die Nachwahlen in Dresden, der Wegfall von Zweitstimmen bei Direktmandaten in Fällen wie dem des geschassten CDUMannes Martin Hohmann – Karlsruhe soll sich einmischen, und da es laut den Umfragen rund einem Drittel der Deutschen egal ist, wer sie demnächst regiert, wird es vielen womöglich auch recht sein, der nächste Kanzler würde gleich dort bestimmt.

Gewiss, für rechtlich derart offensiv geführten Streit gibt es meist eine politische Erklärung. Die linken Listen zu diskreditieren, war ein gemeinsames Anliegen aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien, bei der Vertrauensfrage ging es darum, den Kanzler als politischen Hasardeur darzustellen, dem seine Macht so wichtig ist, dass er sie sogar aufs Spiel setzt, um sie zu mehren. Anders liegt es bei den Nachwahlen. Der Affekt, hier dürften die Dresdner Deutschlands Zukunft bestimmen, ist nicht nur unter den Klägern in Karlsruhe verbreitet. Vielen ist nicht einsichtig, wie es mit der Wahlgleichheit vereinbar sein soll, wenn der eine in Kenntnis der Ergebnisse wählt und der andere nicht. Dabei ändert dies nichts am Erfolgswert der Stimme.

Nicht nur die Justiz in Karlsruhe, auch die Wahlleiter haben der Versuchung widerstanden, den politischen Prozess weiteren Kautelen zu unterwerfen. Doch die Diskussionen der letzten Wochen und Monate zeigen, dass dieser Trend zur Verrechtlichung sich fortsetzen wird. Politische Räume zu begrenzen, trifft paradoxerweise oft auf mehr Zustimmung, als sie zu eröffnen. Typisch deutsch? Vielleicht. Aber es liegt auch daran, dass politische Konzepte zu unterschiedslos und partikular geworden sind, um Aufmerksamkeiten zu bündeln und Wertekonflikte sichtbar zu machen. Das ist der Preis für unsere Stabilität, den wir zahlen, obwohl wir stabil genug sind. Es könnte an der Zeit sein, echte Wahlgleichheit herzustellen – und die Fünfprozenthürde zu senken.

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