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Meinung: Zeit für Zweifel

Die Kirchen warnen Weihnachten vor einer Demontage des Sozialstaats

Von Gerd Appenzeller

Die christliche Botschaft zur Heiligen Nacht ist 2000 Jahre alt, und in ihrem Kern ist sie seit Jesu Geburt immer gleich geblieben – Gott ist durch seinen Sohn zu den Menschen gekommen. Aber die Weise, in der diese Botschaft verkündet wird, hat sich durchaus gewandelt. Das ist nicht etwa ein Indiz für eine den jeweiligen Zeitläuften angepasste, modische Interpretation des Lukasevangeliums, sondern ein Zeichen dafür, dass das Christentum eine lebendige Religion ist. Sie will den Menschen eine Orientierung geben. Das Bedürfnis danach lässt in den Zeiten nach, in denen es den Menschen gut geht. Wer satt ist, denkt eher weniger nach, vor allem hat er keine Zeit für Selbstzweifel. Wenn die Zeiten unsicher werden, sind die Kirchen hingegen voll. So voll wie in diesem Jahr waren sie seit Jahrzehnten in Deutschland nicht mehr.

2003 wird als das Jahr in die Nachkriegsgeschichte eingehen, in dem am meisten vom Umbau die Rede war, vom Umbau des Sozialstaates. Die Kirchen tragen diesen Prozess der Umgestaltung mit. Das machten die evangelischen und katholischen Bischöfe in ihren Predigten am Heiligen Abend deutlich. Aber sie warnen davor, dass dieser Umbau nicht zum Abbau werden, die Veränderung nicht zur Zerschlagung führen darf. Sowohl der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, als auch der neue Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Berlin-Brandenburger Bischof Wolfgang Huber, haben fast mit den gleichen Worten gewarnt: Der Umbau des Sozialstaates darf nicht zu einer weiteren Schwächung der Armen führen. Die Armen, das sind vor allem die Älteren, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr haben, obwohl sie durch die Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe besonders hart getroffen werden. Und es sind die allein Erziehenden und die Familien mit vielen Kindern.

Die Kirchen werden den Umbau des Sozialstaates nur unterstützen, so lange sie sicher sein können, dass die Kosten der Reform von allen Gruppen der Gesellschaft getragen werden. Dass es eine Reform zu Lasten der weniger Besitzenden sein wird, liegt ohnedies auf der Hand. Aber dennoch muss, gerade aus der Sicht der Kirchen, für alle gleiches Recht gelten. Am Einzelfall wird sich aber zeigen, ob dieses Recht auch in soviel Ungerechtigkeit umschlagen kann, dass es subjektiv als Unrecht empfunden werden wird, obwohl objektiv betrachtet alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Solche extremen Pendelausschläge erleben wir seit Jahren in der Asylpolitik, wo uns auf der einen Seite offenkundige Fälle von Missbrauch aufregen, während wir andererseits mit Abschiebungen konfrontiert werden, die uns ob ihrer offensichtlichen Herz- und Gefühllosigkeit erschüttern. Ähnliches werden wir auch zunehmend in der Sozialpolitik erleben.

Ob tatsächlich, wie der Paritätische Wohlfahrtsverband befürchtet, die Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau weitere 1,7 Millionen Menschen zu – statistisch betrachtet – Armen macht, weiß niemand. Dass vor allem Kinder in den betroffenen Familien die Leidtragenden sein werden, kann aber als sicher angenommen werden. Auch hier klingt die Ermahnung von katholischen wie evangelischen Bischöfen gleich. Die Grenzen der Zumutbarkeit liegen dort, wo Menschen nicht mehr in der Lage sind, ein Leben zu führen, das persönliche Entfaltungsmöglichkeiten einschließt, formulierte der EKD-Ratsvorsitzende Huber im Gespräch mit dieser Zeitung.

Die Erwachsenen werden versuchen, das steht fest, sich ihren Teil an den Entfaltungsmöglichkeiten zu ertrotzen. Ob das den Alten und den Kindern ebenfalls gelingt, ist hingegen überaus fraglich. Die Bischöfe haben warnend signalisiert, dass sie dieses Thema nicht aus den Augen verlieren werden. Dass die Blicke für Ungerechtigkeiten geschärft werden – auch das ist ein Teil der Weihnachtsbotschaft.

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